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Geschichte der deutschen Sprache

Geschichte der deutschen Sprache

Titel: Geschichte der deutschen Sprache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Roelcke
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erhalten (etwa:
Wir gedenken der Toten
) und wird meist mit Hilfe von Präpositionen (Verhältniswörtern) umschrieben (also beispielsweise:
Wir denken an die Toten
). Aber auch der Gebrauch des Genitivs als Attribut (Beifügung) ist im Deutschen rückläufig: So werden auch in der Schule immer seltener
Goethes Werke
oder
die Werke Goethes
gelesen, sondern vielmehr
die Werke von Goethe
; wer wenig damit am Huthat, legt vielleicht auch
dem Goethe seine Werke
ungelesen beiseite. Beiden Umschreibungen, also sowohl derjenigen durch eine Präposition als auch derjenigen mit einem Personalpronomen, ist jedoch gemeinsam, dass hier nicht einfach ein anderer Kasus für den Genitiv einspringt, sondern andere Wortarten hinzugezogen werden (von daher ist die bekannte Parole
Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod
als solche leider doch irreführend).
    Neben dem Rückgang des Genitivs und dem Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ zeigt sich im jüngeren Deutschen zudem eine Tendenz, den Dativ zugunsten des Akkusativs oder von Präpositionen zurückzustellen: Heutzutage wird man weniger
jemandem kochen
, man wird vielmehr
jemanden bekochen
oder
für jemanden kochen
. Diese Erscheinung wird von Sprachkritikern gerne als Tendenz zum Unpersönlichen gewertet. Ob sie zusammen mit den anderen Entwicklungen zu einem Zusammenfall der deutschen Kasus zu einem Zwei-Kasussystem (mit Nominativ und ergänzendem Kasus) führen wird, ist aus gegenwärtiger Sicht jedoch mehr als fraglich.
    Während im Bereich der Kasus also ein Rückgang an Formen zu beobachten ist, zeigt sich bei den Numeri ein anderes Bild: Die Unterscheidung von Singular und Plural hat sich vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit als stabil erwiesen. Man denke hier vor allem an die Kennzeichnung des Plurals durch Suffixe wie
-e
(
Tag
und
Tage
),
-en
(
Leid
und
Leiden
) oder
-er
(
Kind
und
Kinder
). Ein Fehlen der Pluralform (wie etwa im Falle von
der Lehrer
und
die Lehrer
, wo die Kennzeichnung allein durch den begleitenden Artikel erfolgt) hat sich nicht durchgesetzt, im Gegenteil: Seit der frühen Neuzeit wird die Kennzeichnung des Plurals durch eigene Formen sogar ausgebaut. Dies gilt zum einen für die Kennzeichnung durch Umlaute (etwa bei
gast
und
gēsti
im Alt- sowie
Gast
und
Gäste
im Neuhochdeutschen) oder das seit dem 17. Jahrhundert besonders häufige Suffix -
s
, dessen Verwendung entweder auf französischen oder auf niederdeutschen Spracheinfluss zurückgeführt werden kann (vgl. beispielsweise
das Auto
und
die Autos
).
    An dieser Stelle bietet es sich an, auf eine allgemeine sprachgeschichtlicheTendenz hinzuweisen, die von Seiten der Vergleichenden Sprachwissenschaft immer wieder angenommen wird: Es geht dabei um die Beobachtung, dass die deutsche Sprache (wie andere indoeuropäischen Sprachen auch) ganz offensichtlich dazu neigt, die Kennzeichnung bestimmter grammatischer Kategorien wie Person, Tempus oder Modus bei Verben und Kasus oder Numerus bei Substantiven und Adjektiven immer weniger durch «synthetische» Flexionsformen und immer mehr durch «analytische» Umschreibungen zum Ausdruck zu bringen (vgl. die folgende Übersicht).
Grammatische Kategorien: Synthetische Wortformen
Analytische Umschreibungen
(1. bis 3.) Person
Personalpronomen
Tempus (Präsens, Präteritum)
Hilfsverben (Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II)
Modus (Indikativ, Imperativ)
Modalverben (insbesondere Einheitskonjunktiv mit
würde
)
Genus Verbi (Aktiv)
haben
und
sein
(Passiv)
Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ)
Artikel, Präpositionen und Pronomen
Numerus (Singular und Plural)
[keine Umschreibung]
    Dieser Wandel von Synthese zu Analyse zeigt sich also bei zahlreichen grammatischen Kategorien im Deutschen, wobei die Kennzeichnung des Plurals bei den Substantiven eine wichtige Ausnahme darstellt, da die entsprechenden Formen hierbei nicht nur beibehalten, sondern sogar ausgebaut werden. Weitaus bedeutender sind in diesem Zusammenhang jedoch die Entwicklungen im Bereich der Wortbildung, da diese letztlich an einer allgemeinen Tendenz des Deutschen weg vom synthetischen und hin zum analytischen Sprachbau zweifeln lassen.
3.3 Wortbildung
    Die deutsche Sprachgeschichte zeigt also nicht nur in der Bildung von Formen, sondern auch bei der Bildung von ganzen Wörtern einige wichtige Entwicklungen. Dies gilt insbesondere für die Komposition (Zusammensetzung von mehreren Wörtern zu einem einzelnen Wort), die Derivation (Ableitung einzelner Wörter durch entsprechende

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