Gezeiten der Sehnsucht - Feehan, C: Gezeiten der Sehnsucht - Dangerous Tides (4 - Libby)
sie ihre Traurigkeit nie ganz abschütteln konnte. Es war kühl, aber so gut wie windstill, und es war wohltuend, in der Sonne zu sitzen und der Brandung zu lauschen.
Sie zog die dünne Decke über ihre Beine und hielt ihren Blick weiterhin auf das funkelnde Wasser gerichtet. Sie war so unachtsam mit ihrem Leben umgegangen und hatte, was noch viel schlimmer war, das Leben ihrer Schwestern leichtsinnig in Gefahr gebracht. Tyson Derricks Kopfverletzungen zu heilen war eine unverzeihliche Dummheit gewesen, die bestraft gehörte. Sie hatte keine Erinnerung an die Vorfälle, die dem vorangegangen waren. Auch an das Meiste, was anschließend passiert war, konnte sie sich nicht erinnern. Fast zwei Wochen lang hatte sie krank im Bett gelegen, und ihr Zustand war bedrohlich gewesen. Ohne die Hilfe ihrer Schwestern wäre sie wahrscheinlich gestorben oder, was noch schlimmer gewesen wäre, sie wäre ein Pflegefall geworden. Ihr Kopf pochte immer noch, wenn sie sich zu viel bewegte, und ihr war häufig sehr übel.
Sarah hatte versucht, mit ihr darüber zu reden, warum sie ihr Leben riskiert hatte, aber Libby wusste es echt und ehrlich nicht. Es war beängstigend. Sie hatte zehn Tage ihres Lebens verloren. Einfach fort. Keinerlei Erinnerungen. Einen solchen Blackout hatte sie noch nie erlebt. Elle hatte ihren Schwestern und Libby schlicht und einfach erklärt, es sei eine Zwangshandlung gewesen, und Libby hätte dem Drang, Tyson zu heilen, nicht widerstehen können.
Ein Schatten fiel über sie, und sie blickte auf. Ihr Herz begann zu rasen, und ihr Mund wurde trocken. Das Buch, das sie in der Hand gehalten hatte, glitt ihr aus den Fingern und fiel in den Sand. »Ty.« Sein Name kam in Form eines Krächzens heraus. Er war der letzte Mensch, den sie in diesem Moment erwartet hätte.
Libby war dankbar für ihre dunkle Brille und richtete den Blick augenblicklich wieder aufs Meer. Wo waren ihre Schwestern? Sie hatte ihnen doch gesagt, sie wollte eine Zeit lang allein sein und nicht gestört werden. Einer Begegnung mit ihm fühlte sie sich nicht gewachsen. Dazu war sie noch viel zu zerbrechlich und immer den Tränen nahe.
Tyson sah lange Zeit auf sie hinunter. Er hatte keine Ahnung, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte, aber schon allein ihr Anblick sprach jedes Mal wieder etwas in seinem Innern an, und er fühlte sich sofort weniger einsam und auf ganz eigentümliche Weise lebendig. Im Lauf der letzten eineinhalb Wochen hatte er zahlreiche Male versucht, sie zu sehen. Nie hatte jemand ihn derart gefesselt, wie Libby Drake. Alles an ihr faszinierte ihn.
Auf dem Universitätsgelände hatte er einmal beobachtet, wie sie an die Seite einer jungen Frau geeilt war, die von einem Wagen angefahren worden war. Er hatte mit seinen eigenen Augen die Verwandlung gesehen, die sich an der Frau vollzogen hatte. Zuerst hatte sie sich vor Schmerzen gekrümmt und im nächsten Moment nichts weiter als ein paar blutige Kratzer gehabt,
wogegen Libby zwei Tage im Krankenhaus verbracht hatte. Alle glaubten, Libby sei diejenige gewesen, die der Wagen angefahren hatte. Das echte Opfer war durch den Wagen verdeckt worden und daher konnte er nicht wirklich sagen, ob die junge Frau schlimme Verletzungen davongetragen hatte, aber Libby hatte fest daran geglaubt.
Das war der Tag, an dem er den Verdacht geschöpft hatte, Libby Drake bräuchte Hilfe. Ihre Familie hatte sie wohl einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen, und sie bildete sich ein, Menschen durch Handauflegen heilen zu können. Die Erinnerung an das Unfallopfer war verblasst, bis er sich nur noch die Qualen auf Libbys Gesicht vergegenwärtigen konnte. Jemand musste sie retten, sie davon überzeugen, dass ihre Magie nicht existierte. Sie war klug und faszinierend und doch so sehr im Banne des Vermächtnisses ihrer Familie von Hochstaplern und Schwindlern gefangen, dass sie tatsächlich die Symptome eines mutmaßlichen Unfallopfers an den Tag legte; ganz ähnlich, wie es sich bei einer Scheinschwangerschaft verhielt.
Er zog den Holzstuhl neben sie. Dicht neben sie. So nah, dass die Armlehnen einander berührten. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich ein paar Minuten zu dir setze?«
Libby krallte ihre Finger in die dünne Decke. »Wie bist du überhaupt hierher gekommen? Das ist ein Privatstrand.«
Er wartete ihre Erlaubnis gar nicht erst ab, sondern setzte sich so dicht neben sie, dass sein Arm ihren Arm streifte. Libby rückte auf ihrem Stuhl ein wenig von ihm ab und zog ihre Beine an
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