Ghost Street
Dürfen wir Sie mal kurz sprechen?«
Jenn drückte ihre Nase gegen das Fenster neben der Tür und sah einen Fernseher flimmern. In einem Sessel war ein Mann zu erkennen. Er rührte sich nicht, schien sie nicht gehört zu haben. Vielleicht war er schwerhörig.
Sie klopfte lauter. »Mister Middleton! Hören Sie mich? Savannah Police! Wir würden gern mit Ihnen sprechen.«
Diesmal drang ein Geräusch nach draußen, als ob jemand einen Sessel zurückschob, und als Jenn durch das Fenster blickte, sah sie, wie sich der Mann erhob und hastig das Zimmer verließ. Im nächsten Augenblick klappte die Hintertür.
Wie immer in einer solchen Situation reagierte sie schneller als ihr Partner. »Sieh dich im Haus um!«, rief sie. »Ich kümmere mich um Middleton!«
Sie rannte um das Haus herum und sah Moses Middleton durch den lichten Wald zur Straße rennen. Er musste Anfang sechzig sein, vielleicht sogar ein wenig älter, war aber gut in Form und gut zu Fuß. Seine weißen Haareleuchteten in dem schwachen Licht, das von der Straße herüberschien.
»Bleiben Sie stehen, Moses!«, rief sie. »Sie brauchen keine Angst zu haben! Wir wollen nur mit Ihnen reden.«
Er schien sie gar nicht zu hören, rannte weiter, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, und erreichte die Straße. Dort blickte er sich zum ersten Mal um. Er hielt verzweifelt nach einem Wagen Ausschau, den er anhalten konnte, sah lediglich einen Lieferwagen, dessen Fahrer sich jedoch nicht um ihn scherte. In seiner Panik rannte der alte Mann über die Straße zu der Tankstelle.
Jenn zog ihre Pistole. Sie hatte schon mit so vielen Irren und Verzweifelten zu tun gehabt, dass sie gern auf Nummer sicher ging. Manch ein Kollege war schon unnötig gestorben, weil er eine Gefahr auf die leichte Schulter genommen hatte. Wer sagte ihr denn, dass dieser Middleton keine Waffe bei sich trug? Auch über Sechzigjährige konnten gefährlich werden.
Sie schlug einen weiten Bogen, überquerte die Straße weiter unten und schlich im Schatten einiger Büsche an die Tankstelle heran. Erst aus der Nähe erkannte sie, dass dort längst kein Benzin mehr verkauft wurde, die Zapfsäulen waren verrostet und das kleine Bürogebäude war nur noch eine Ruine. Die beiden Fenster waren eingeschlagen, die Tür stand offen.
Wenige Schritte von der Ruine entfernt ging sie hinter einer Zapfsäule in Deckung. In dem trüben Licht, das von der einzigen Straßenlampe im weiten Umkreis herüberfiel, sah sie den alten Mann hinter der offenen Tür kauern. Sein Schatten fiel in den Schmutz vor dem Gebäude.
»Savannah Police!«, rief sie noch einmal. »Kommen Sie mit erhobenen Händen da raus, Moses! Keine falsche Bewegung! Worauf warten Sie?«
Moses Middleton stand langsam auf und kam mit erhobenen Händen aus der Ruine. »Nicht schießen, Officer!«, flehte er mit dünner Stimme. »Bitte nicht schießen! Ich wollte doch nicht …« Er weinte fast. »Ich wollte mir … mir die Sachen nur ausleihen.«
Sie ahnte, dass er tatsächlich einen Grund hatte, vor der Polizei davonzulaufen, steckte ihre Pistole weg und legte ihm Handschellen an. Vorsichtshalber trug sie ihm seine Rechte vor. Man wusste nie, mit welch raffinierten Anwälten man zu tun bekam.
Widerstand gegen die Staatsgewalt konnte sie ihm vorwerfen, doch als sie mit ihm sein Haus erreichte, wartete Harmon schon mit dem Beweis für ein größeres Verbrechen.
»Nun sieh dir das an«, sagte er und deutete auf einen Stapel in Zellophan verpackter Oberhemden. Auf den Verpackungen waren der Name des Kaufhauses, in dem Moses Middleton arbeitete, und das Preisschild zu sehen. »Unser Freund ist ein Dieb. Oder haben Sie eine Quittung für die Hemden, Mister Middleton?«
Der Alte erkannte, dass es keinen Sinn hatte zu leugnen, und ergab sich in sein Schicksal. »Sie haben recht, ich wollte die Hemden verkaufen. Oberhemden sind gefragt. Ich hab keine Wucherpreise verlangt, wissen Sie? Und dem Kaufhaus ist es doch egal, wenn ein paar Hemden fehlen. Die sind doch gut versichert.«
»Das ist Diebstahl, Moses«, sagte Jenn. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Deputys zu rufen. Sie werden die Nacht im Gefängnis verbringen müssen und Ihren Job sind Sie wohl auch los. Ist Ihnen das klar?«
Er machte sich anscheinend nicht viel daraus. »Meinetwegen. Ein paar Tage Knast können nicht schaden, da bekomme ich wenigstens was Warmes zu essen. Und der Job?Auf den ist … na, Sie wissen schon. Für fünf Dollar die Stunde kriege ich immer irgendwo was
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