Ghost Street
sich vor das Fenster. Draußen war alles still. Die Lampe vor der Tür war ausgeschaltet und tiefe Dunkelheit lastete auf dem Haus und dem nahen Kartoffelfeld. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte er das Rauschen der mächtigen Eiche neben dem Stall hören. Der Wind hatte aufgefrischt und wehte Laub und Abfall über den Hof. Der Hund war schon vor zwei Jahren verstummt, er war an einer geheimnisvollen Krankheit eingegangen. Homer hatte keinen neuen gekauft.
Weit in der Ferne glaubte er, die Scheinwerfer eines Wagens auszumachen. Doch sie erloschen schon nach wenigen Sekunden. Ein Wagen auf der Landstraße, der hinter den Bäumen verschwunden war. Das dumpfe Dröhnen eines Trucks schallte mit dem Wind herüber. Unheimliche Laute, die er sonst selten wahrnahm.
Er blickte auf die Uhr über der Kommode. Zehn Minuten nach Mitternacht. Die Zeit verging quälend langsam. Aber er musste aufbleiben, durfte auf keinen Fall einschlafen. Dass die Cops immer kurz vor der vollen Stunde vorbeikamen, war nicht genug.
Er legte den Revolver aufs Fensterbrett und holte sichdie Milch aus dem Kühlschrank. Mary-Beth mochte es nicht, wenn er aus dem Karton trank, aber er war viel zu unruhig, um ein Glas aus dem Schrank zu holen. Er trank einen Schluck und stellte den Karton neben den Revolver auf das Fensterbrett. Die Milch hielt ihn wach.
Doch als die Schlafzimmertür aufging und Mary-Beth verschlafen im Wohnzimmer erschien, war er eingenickt und fuhr benommen hoch.
»Warum kommst du nicht ins Bett, Homer-Schatz?«, fragte sie ihn. »Es ist … es ist wegen dieses Killers, nicht wahr? Du hast Angst, dass er kommt.«
»Nein, Mary-Beth.« Er versuchte, den Revolver und die Milch mit seinem Körper zu verdecken. »Ich kann nur nicht schlafen. Es muss Vollmond sein. Du weißt doch, dass ich bei Vollmond immer wandere. Geh wieder ins Bett, Schatz, es ist alles gut.«
Er spürte, dass sie ihm nicht glaubte und am liebsten bei ihm geblieben wäre. Doch sie murmelte nur ein »Schon gut« und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Er hörte die Bettfedern quietschen. Ihr Bett war steinalt.
Um kurz vor ein Uhr, pünktlich wie die Maurer, kam der Streifenwagen vorbei. Er bog von der Landstraße ab und fuhr bis auf Sichtweite an die Farm heran, leuchtete den Hof mit dem Suchscheinwerfer ab und drehte wieder um. Ohne Hast fuhr er davon.
Homer Middleton lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und machte es sich bequem. Immerhin passten die Cops auf sie auf. Vor vierzig Jahren wäre das unmöglich gewesen, da hätten sie noch gemeinsame Sache mit dem Klan gemacht. Heute waren viele Schwarze selbst Polizisten. Es war noch schneller gegangen, als Martin Luther King, der legendäre Freiheitskämpfer, gehofft hatte, auch wenn vor allem im tiefen Süden noch manches im Argen lag. DerTag, an dem die Hautfarbe eines Menschen überhaupt keine Rolle mehr spielte, würde hier vielleicht nie kommen.
Er öffnete die Augen und blickte auf die Wanduhr. Schon zwanzig nach eins. Er war wieder eingeschlafen und irgendein Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Das Blubbern eines Motors? Scharrende Schritte? Die leise Stimme eines Mannes?
Oder hatte er nur geträumt?
Er griff nach seinem Revolver und blickte aus dem Fenster. Etwas heller war es geworden. Der Mond hatte eine Lücke gefunden und schüttete sein blasses Licht auf den baufälligen Stall, die Scheune und den Kartoffelacker.
In seinem Licht glaubte Homer, einen Schatten zu sehen. Die flüchtige Bewegung einer Gestalt, die gleich darauf in der Dunkelheit untertauchte.
Ein Landstreicher?
Oder doch …
Er stand leise auf, den Revolver in der rechten Hand, und ging zur Tür. Wenn es der Killer war, würde er ihm gegenübertreten und ihm keine Gelegenheit geben, seiner Frau, seinen Kindern oder ihm etwas anzutun. Er würde diesen Mann stoppen, bevor er nur daran denken konnte, ihn anzugreifen.
Die Zeiten, da sich ein Schwarzer willenlos zur Schlachtbank führen ließ, waren endgültig vorbei. Er würde sich wehren, bis zum letzten Blutstropfen.
Nur einen Moment dachte er daran, sein Handy aus dem Schlafzimmer zu holen und die Polizei anzurufen. Was konnte er ihnen schon sagen? Ich habe das Gefühl, da ist jemand im Hof ? Nein, mit Gewissheit kann ich es nicht sagen, ich habe nur einen Schatten gesehen. Ja, Sir, es könnte auch ein Landstreicher sein oder ein Hund oder eine Katze. Könnten Sie dennoch mal kommen und nachsehen?
Was würden sie ihm schon antworten? Der Streifenwagen kommt in
Weitere Kostenlose Bücher