Ghost
wieder. Er sah aus wie ein kraftstrotzender junger Priester aus einem Fünfzigerjahrefilm. Diesmal kam er in Begleitung eines finsteren Engländers vom British Security Service MI5. Sein Name kam mir irgendwie nie zu Ohren – wohl deshalb, so meine Vermutung, weil er auch nie für meine Ohren bestimmt war.
Sie zeigten mir ein Foto. Meine Sehschärfe ließ noch zu wünschen übrig, aber dennoch konnte ich den Verrückten identifizieren, den ich in der Bar meines Hotels getroffen hatte und der bei dem Feldweg, der zu Rhineharts gesichertem Anwesen führte, seinen einsamen Wachposten mit dem Bibelspruch aufgebaut hatte. Sie sagten, dass der Mann George Arthur Boxer heiße und ein ehemaliger Major der britischen Armee sei, dessen Sohn im Irak getötet worden und dessen Frau sechs Monate später bei einem Selbstmordattentat in London umgekommen war. In seinem zerrütteten Geisteszustand habe Major Boxer Adam Lang persönlich dafür verantwortlich gemacht und sei ihm, nachdem er in den Zeitungen von McAras Tod gelesen hatte, bis nach Martha’s Vineyard gefolgt. Er sei ein Experte in Sachen Kriegsmaterial und nachrichtendienstliche Tätigkeit gewesen. Die Kenntnisse darüber, wie man ein Selbstmordattentat durchführt, habe er sich aus dem Internet geholt, von diversen Dschihadisten-Websites. Er habe in Oak Bluffs ein Cottage gemietet, sich einen Vorrat an Peroxiden und Unkrautvertilgungsmitteln angelegt und das Häuschen in eine Kleinfabrik zur Produktion von selbst gebauten Sprengkörpern umfunktioniert. Es sei ein Leichtes für ihn gewesen, Lang bei seiner Rückkehr aus New York abzupassen, weil er nur auf die gepanzerte Limousine habe achten müssen, die immer vom Rhinehart-Anwesen zum Flugplatz fuhr, um Lang abzuholen. Wie er auf das Flugplatzgelände gekommen sei, wisse man nicht, dies sei aber bei Dunkelheit und einem über sechs Kilometer langen Zaun sicher nicht unmöglich gewesen. Außerdem hätten die Experten die vier Beamten von der Special Branch plus ein gepanzertes Fahrzeug als für Langs Schutz ausreichend erachtet.
Man müsse realistisch bleiben, sagte der Mann vom MI5. Die Gewährleistung von Sicherheit habe seine Grenzen, besonders wenn man es mit einem zu allem entschlossenen Selbstmordattentäter zu tun habe. Er zitierte Seneca, im lateinischen Original, übersetzte es mir aber dankenswerterweise : »Wer sein eigenes Leben verachtet, der ist Herr über das deinige.« Ich glaubte, bei allen eine gewisse Erleichterung über die Umstände von Langs Tod zu spüren: bei den Briten, weil er auf amerikanischem Boden getötet worden war; bei den Amerikanern, weil er von einem Briten in die Luft gejagt worden war; und auf beiden Seiten, weil es nun keinen Kriegsverbrecherprozess, keine Enthüllungen und keinen Engländer geben würde, der sein Gastrecht überstrapazieren und in den nächsten zwanzig Jahren die Abendgesellschaften Georgetowns bevölkern würde. Man konnte fast sagen, dass sich die Angelegenheit im Sinne der besonderen Beziehung zwischen den beiden Ländern auf gefällige Weise erledigt hatte.
Agent Murphy fragte mich nach Einzelheiten über den Flug von New York nach Martha’s Vineyard und ob Lang irgendwelche Sorgen bezüglich seiner persönlichen Sicherheit geäußert habe. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass das nicht der Fall gewesen sei.
»Mrs Bly hat uns erzählt«, sagte der MI5-Mann, »dass Sie gegen Ende des Fluges ein Interview mit ihm aufgezeichnet hätten.«
»Nein, da irrt sie sich«, sagte ich. »Der Rekorder stand zwar vor mir, aber ich hatte ihn die ganze Zeit ausgeschaltet. Außerdem handelte es sich nicht wirklich um ein Interview, es war mehr eine lockere Plauderei.«
»Dürfte ich mir den Rekorder mal anschauen?«
»Klar.«
Meine Schultertasche lag auf dem Nachttisch neben dem Bett. Der MI5-Mann holte den Rekorder aus der Tasche und nahm die Minidisc heraus. Ich schaute ihm mit trockenem Mund zu.
»Kann ich mir die ausleihen?«
»Sie können sie behalten, wenn Sie wollen«, sagte ich. Er schaute sich auch den Rest des Tascheninhalts an. »Übrigens, wie geht’s Amelia eigentlich?«
»Gut.« Er steckte die Disc in seine Aktentasche. »Danke.«
»Kann ich sie sehen?«
»Sie ist gestern Abend nach London zurückgeflogen.« Er muss mir meine Enttäuschung angesehen haben, denn er setzte mit frostig vergnügter Stimme hinzu: »Kein Wunder, sie hat ihren Mann das letzte Mal vor Weihnachten gesehen.«
»Und Ruth?«, fragte ich.
»Sie begleitet in diesem
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