Ghost
ein ausgebuffter Schauspieler er doch war: die Sorte Profi, die sich immer ins Zeug legte, um eine gute Show abzuliefern, egal, ob ihm ein einzelner Mensch oder eine Million Menschen zuhörte.
»... und der da klopft, will einfach nicht abhauen, klopft und klopft und klopft. Am Abend vorher hatte ich ein bisschen was getrunken und, na ja, auch sonst noch was intus, und ich liege also da mit dickem Schädel, fühl mich beschissen und drück mir das Kissen auf den Kopf. Und dann fängt’s wieder an: klopf, klopf, klopf. Am Ende wuchte ich mich dann aus dem Bett, schon ziemlich sauer, kann ich Ihnen sagen, ziehe mir den Bademantel über und mache auf. Und da steht dieses Mädchen, ein umwerfendes Mädchen. Tropfnass vom Regen, was ihr aber total egal ist, und sofort lässt sie eine Rede vom Stapel über die Kommunalwahlen. Wirklich schräg. Und ich? Ich hab nicht mal gewusst, dass überhaupt Wahlen sind, aber wenigstens bin ich so schlau, höchstes Interesse zu heucheln. Ich bitte sie reinzukommen, damit sie sich ein bisschen aufwärmen kann, und mache ihr eine Tasse Tee. Und bumm – ich bin sofort verliebt. Eins kapier ich gleich: Die beste Methode, um sie wiederzusehen, ist, ihr eins von ihren Flugblättern abzunehmen und am nächsten Dienstagabend oder wann auch immer bei der Versammlung aufzutauchen und der Partei beizutreten. Und das hab ich dann gemacht.«
»Und das war Ruth?«
»Das war Ruth.«
»Und wenn sie Mitglied in einer anderen Partei gewesen wäre?«
»Dann wäre ich in die eingetreten. Ich wäre natürlich nicht in der Partei geblieben«, fügte er schnell hinzu. »Ich meine, es liegt doch auf der Hand, dass das für mich der Beginn eines langen politischen Erweckungsprozesses war, der Werte und Überzeugungen zum Vorschein brachte, die schon vorhanden waren, aber damals, zu der Zeit, einfach noch vor sich hin geschlummert haben. Nein, nein, ich hätte nicht Mitglied in irgendeiner Partei sein können. Aber alles wäre anders gekommen, wenn nicht Ruth an jenem Nachmittag an meine Tür geklopft und immer weitergeklopft hätte.«
»Und wenn es nicht geregnet hätte.«
»Wenn es nicht geregnet hätte, wäre mir schon irgendwas anderes eingefallen, um sie hereinzubitten«, sagte Lang grinsend. »Ich meine, he, Mann, ich war kein vollkommen hoffnungsloser Fall.«
Jetzt grinste ich, schüttelte den Kopf und notierte »Einstieg??« in mein Notizbuch.
*
Wir arbeiteten den ganzen Morgen durch und legten nur eine Pause ein, wenn eine der Minidiscs voll war. Dann lief ich kurz nach unten in den Raum, den Amelia und die Sekretärinnen als provisorisches Büro benutzten, und übergab die Disc zur Abschrift. Das kam einige Male vor, und wenn ich wieder ins Zimmer zurückkam, saß Lang jedes Mal genauso da, wie ich ihn verlassen hatte. Anfangs dachte ich, das sei Ausdruck seiner hohen Konzentrationsfähigkeit. Erst nach und nach wurde mir klar, dass ihm nichts anderes einfiel, was er sonst hätte tun können.
Ich führte ihn vorsichtig durch seine frühen Jahre, wobei ich mich nicht so sehr auf die Fakten und Daten konzentrierte (die hatte schon McAra pflichtgetreu zusammengetragen), sondern auf Eindrücke und physische Gegenstände aus seiner Kindheit: die Doppelhaushälfte in einer Wohnsiedlung in Leicester; den Charakter seines Vaters (Bauunternehmer) und seiner Mutter (Lehrerin); die betulichen, apolitischen Wertvorstellungen im ländlichen England der Sechziger, wo an Sonntagen das einzig vernehmbare Geräusch das von Kirchenglocken und bimmelnden Eiscremewagen war; das Fußballspiel im Matsch des Stadtparks am Samstagmorgen und die Kricketpartien an langen Sommernachmittagen unten am Fluss; der Austin Atlantic seines Vaters und sein erstes eigenes Fahrrad, ein Raleigh; die Comics Eagle und The Victor; im Radio die Komödienserien I`m Sorry, I`ll Read That Again und The Navy Lark; das WM-Endspiel 1966, Z Cars und Ready, Steady, Go! im Fernsehen; Die Kanonen von Navarone und Das total verrückte Krankenhaus im A.B.C.-Kino in Leicester; Milly und ihr Lied My Boy Lollipop, die Beatles-Singles bei 45 UpM auf Mutters Dansette Capri.
Während wir in Rhineharts Arbeitszimmer saßen und Details des Lebens in England ausgruben, die fast ein halbes Jahrhundert zurücklagen, erschienen diese fast so weit entfernt zu sein wie antiquarischer Nippes auf einem viktorianischen Trompe-l’Œil-Gemälde – und, so könnte man glauben, ebenso relevant. Aber meine Vorgehensweise war natürlich schlau, und
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