Glaesener Helga
gesagt, dass sie schummelt, und das stimmte auch, weil sie beim Springen auf die Schnur getreten ist, und sie wollte es nicht zugeben, aber ich hab’s gesehen. Mamma war böse auf mich. Ich soll nicht sagen, dass jemand schummelt, hat sie gesagt, weil sich das nicht gehört und weil es unwichtig ist und …«
»Ja?«
»Sie hat gesagt, ich werde genau wie mein Vater.«
Dina machte sich los. Sie schaute Cecilia an, und es war klar, was sie erwartete – ein Urteil.
»Nun, ich denke, wenn jemand schummelt, dann schummelt er.«
»Ich durfte Mamma drei Tage nicht besuchen. Sie war sehr, sehr böse.«
Gut gemacht, Grazia. Und du ebenfalls, Rossi, dachte Cecilia aufgebracht, während sie sich erhob. Wie kann dieses schreckliche Kind es auch wagen, seinen Eltern zu gleichen! Wie kann es nur wagen, Dinge zu sagen oder zu tun, die eventuell dem ähneln könnten, was seine Mutter oder sein Vater eventuell sagten oder täten. Schlagt nur immer drauf!
»Hör zu, Schätzchen.« Sie streichelte zärtlich die kleine Wange. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Im Kloster leben viele Mädchen. Und alle sind unterschiedlich. Einige werden dich mögen und andere nicht. Du hältst dich einfach an die netten. Dann wird es gehen.«
»Darf ich wieder nach Hause, wenn sie mich ärgern?«
»Sie werden dich nicht ärgern. Und ich hab dich lieb auf immer und ewig!«
Der Lärm nebenan wurde lauter. Cecilia küsste Dina, probierte noch einige Kleider mit ihr an, und dann trieb sie das Kind an die französische Lektüre. Als sie ins Speisezimmer kam, wo Adolfo und Leo die Schrauben, mit denen die Spanntapeten befestigt waren, aus der Wand drehten, sah sie, dass die Schauspieler Kulissen ins Teatro brachten. Arlecchino und der Dottore schoben auf einem Rollengestell einen Wald durch die Flügeltür, ein Junge transportierte einen halben Brunnen aus Pappmaché. Unter seinem Arm klemmte eine klappbare Sonne.
Künstliche Pflanzen in Blumenkübeln wanderten vom Wagen auf die Straße. Sie sahen schwer aus und waren doch so leicht, dass die junge Rothaarige, die Smeraldina, sie mit einer Hand über die Seitenwand des Karrens heben konnte. Die Schauspielerin trieb die Männer übellaunig zur Eile an. Keine Reklame für einen Komödiantentrupp, dachte Cecilia mit einem Blick auf die Leute, die dem Trubel vom Markt aus zusahen.
Sie ging durch den Flur ins Teatro.
Dina war ihrer Lektüre entflohen und über die Treppe zur linken Loge hinaufgeklettert. Sie schaute, den Kopf auf die Hände gestützt, gespannt über die Brüstung. Jemand trug die Leitern hinab, die seit ewigen Zeiten in der Loge aufbewahrt worden waren. Der Mann mit dem schwarzen Frack – er hatte ihn ausgezogen, zugunsten einer geflickten Jacke, an der sich der Ellbogen aufribbelte – saß auf einem Stuhl in einer Ecke, das Kinn auf der Brust, und schnarchte.
Arlecchino war es, der die Arbeit leitete. »Hopp! Uuuund … absetzen. Uuuund … kannst du nicht aufpassen. Du bist ein Kamel! Ein Kamel mit einer begnadeten Stimme, aber trotzdem … Nein, nicht dorthin. Soll die liebliche Angela mit dem Hintern in der Stechpalme landen?«
»Ihr Kuss ist stachelig genug«, brüllte der Mann, der die Leitern trug, von der Logentreppe. Einige lachten, eine Frau, deren Gesicht bereits deutliche Spuren des Alterns zeigte – unter anderem einen Damenbart –, zog in unnachahmlicher Grandezza eine Augenbraue hoch.
»Stell den Thron nach links … weiter, weiter …«
»Der Thron hat immer neben der Palme gestanden.«
»Und tun wir, was wir taten, unser Leben lang?«, deklamierte Arlecchino theatralisch. Der Thronschieber, ein gut aussehender Bursche mit einem spitzen Kinn und einem fulminanten Backenbart, klatschte spöttisch in die Hände.
Cecilia musste lachen.
In diesem Moment legte ihr jemand von hinten die Hände um die Taille. Sie war noch völlig in ihrem eigenen Lachen befangen. Dass man sie anfasste, dass man sie auf eine derart intime Weise berührte, die Hände unter ihrem Busen, war unmöglich, und sie brachte es im ersten Augenblick mit der Scheinwelt in Verbindung, die hier nicht nur aufgebaut, sondern von den Schauspielern bereits gelebt wurde. Arlecchino liebt Smeraldina . Der Geruch nach staubiger Pappmaché … Und der Geruch nach …
Sie erstarrte. Einen Atemzug lang wirbelte sie durch verschiedene Welten. In der einen zog ihr Leib sich voller Schmerz zusammen … fort … fort … In einer anderen glühte sie vor Rachsucht. In der dritten, der alles beherrschenden,
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