Glückskekssommer: Roman (German Edition)
trete ein.
Es stehen zwei Betten im Raum. Eins ist leer. Im anderen liegt er – schmal und schrecklich blass. Ein Pfleger ist bei ihm und räumt gerade das Tablett mit dem Abendessen ab. Karl hat mal wieder fast nichts zu sich genommen. Aber als er mich sieht, lächelt er.
»Rosa, meine Kleine«, sagt er. »Ich konnte mir denken, dass du kommst.«
Ich bin so erleichtert.
Seine Wangen sind eingefallen. Ich bin sicher, dass er in den paar Tagen noch mehr abgenommen hat. Aber er lächelt und spricht mit mir. Mein optimistischer Teil glaubt sofort, dass es bestimmt nicht so schlimm um ihn steht, wie die Nachbarin behauptet hat.
Der Pfleger mustert mich neugierig.
Ich nicke ihm kurz zu. »Kann ich das Tablett noch mal haben?«
»Ja?« Er guckt mich erstaunt an.
»Wenn ich dabei bin, schmeckt dem Herrn Kasulke das Essen besser«, erkläre ich ihm.
»Ich werde mir zumindest Mühe geben«, bestätigt Karl.
»In Ordnung«, sagt der Pfleger zufrieden. Er gibt mir das Essen zurück und geht aus dem Zimmer.
»Ich muss jetzt die Wahrheit wissen«, sage ich. Ich wundere mich selbst, woher ich die Bestimmtheit nehme. »Was ist mit dir? Deine Nachbarin hat mir einen Höllenschrecken eingejagt.«
»Mach dir keine Gedanken, Prinzesschen. Es geht schon.«
Nicht doch, jetzt fängt Karl auch noch mit der Aschenputtel-Tour an. »Was immer es ist, ich verkrafte es schon«, sage ich ernst. »Ich bin doch erwachsen, Karl.«
Er nickt. »Entschuldige!«, sagt er ohne Umschweife. »Es ist der Krebs. Er ist zurück, mit Metastasen überall.«
Okay, da habe ich sie, die Wahrheit. Und sie tut weh. Erwachsensein ist Scheiße. Am liebsten würde ich heulen, aber das bringt uns auch nicht weiter, also reiße ich mich zusammen.
Ich bestreiche ein Brot mit Butter und lege Käse-, Salami-, Gurken- und Tomatenscheiben drauf. Dann schneide ich es in Stückchen.
»Soll ich die Pyramide da etwa essen?«
»Sollst du«, sage ich. »Bitte.«
Wir essen schließlich zusammen. Ein Häppchen für Rosa. Ein Häppchen für Karl. Dazu zwei Tassen Pfefferminztee. Er isst langsam, schweigend, so, als ob er sich ganz auf jeden einzelnen Bissen konzentriert. Ich hänge meinen Gedanken nach.
»Karl, was kann ich für dich tun, solange du hier bist?« Ich räume Teller und Tassen zusammen. Hoffentlich gibt er mir viele Aufträge. Das schaffe ich auch noch. Er soll sich bloß nicht aufgeben.
»Ein paar Bücher für’s Erste«, antwortet er. »Hier in der Schublade ist mein Hausschlüssel. Den zweiten hat die Nachbarin. Die kümmert sich immer um die Katzen, wenn ich weg bin. Und dann, später … Du weißt schon, was ich meine. Sorg dafür, dass die beiden in gute Hände kommen.«
Ich nicke.
Ganz plötzlich ist mir sonnenklar, was ich noch tun kann, ja geradezu tun muss . Karl würde mich niemals darum bitten und das soll er auch nicht.
Als ich mich verabschiede, fühle ich mich wichtig wie James Bond. Ich habe jetzt eine Mission.
Im gleichen Tempo, wie ich zum Krankenhaus gelaufen bin, verlasse ich es auch wieder.
Ich komme mir vor, als trainierte ich für den Marathon – allerdings auf Stöckelschuhen trippelnd (sorry, aber ich hasse Turnschuhe) und im hautengen Polyester-Glitzertop. Die Stimmung an der Straße ist jedenfalls eventverdächtig. Ich werde laufend bejubelt und angefeuert, vornehmlich von dunkelhaarigen, jungen Männern.
Verschwitzt und schnaufend erreiche ich schließlich das ›Schraders‹. Die Lesung hat natürlich längst angefangen. Vicki denkt bestimmt, dass ich einen Rückzieher gemacht habe.
Ich lege meine Hand an die Tür, will gerade öffnen und möglichst unauffällig hineinschlüpfen, als von drinnen Gelächter ertönt. Immerhin ist es kein kollektiver Orgasmus, was angesichts von Vickis detailverliebten Schilderungen durchaus möglich wäre. Aber scheinbar hat sich das literaturbeflissene Lesungspublikum diesbezüglich im Griff.
Das Lachen ebbt ab. Ich höre Vickis klare dunkle Stimme. Sie macht ihre Sache sehr gut, was ich auch gar nicht anders von ihr erwartet habe.
Gern wäre ich jetzt dort. Den ganzen Tag habe ich mich darauf gefreut. Aber jetzt kann ich auf einmal nicht. Der Anblick von Karl geht mir nicht aus dem Kopf und vermischt sich mit Bildern von meinem Opa. Ich kann jetzt nicht unter Leute gehen, lachen und Cocktails trinken. Morgen wieder. Aber heute will ich allein sein.
Ich bin mir sicher, dass Vicki das verstehen kann.
*
Drei Tage später. Frohnau im Norden von Berlin. Hübsche
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