Glücksregeln für den Alltag
entsprechende Themen halte oder an Konferenzen teilnehme, dies als produktive Tätigkeit betrachtet wird? Sieht man das Treffen mit anderen Menschen, das Führen von Gesprächen, meine Lehrtätigkeit und meine Vorlesungen als produktive Arbeit an?“
„Durchaus“, antwortete ich. „Lehren ist im Westen absolut als Beruf anerkannt; wenn also ein Mönch studiert und meditiert und dann seine Kenntnisse an andere Menschen weitergibt, so gilt das als produktive Arbeit. Es gibt ja Menschen in dieser Welt, die sehr abseitige Disziplinen studieren - vielleicht beschäftigen sie sich mit dem Lebenszyklus eines obskuren kleinen Käfers -, und auch dies wird als produktive Arbeit angesehen, weil es durch die Lehre und die darüber geschriebenen Artikel etwas zum allgemeinen Wissen beiträgt.
Wenn Sie also Ihre morgendliche Meditation und Ihr Studium irgendwie zum Wohl der Welt anwenden, dann wird dies als produktive Arbeit verstanden. Aber das wäre nicht der Fall, wenn Sie als Einsiedler lebten und Ihr Wissen mit niemandem teilten.
Nur damit keine Zweifel aufkommen“, fügte ich hinzu, „gehe ich Recht in der Annahme, dass Sie eine einsame Meditation als produktive Tätigkeit betrachten? Würden Sie, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einen Mönch, der als Einsiedler lebt, der kaum Kontakt mit irgendjemand anderem hat und sein Leben nur mit Meditation verbringt, in dem Versuch, Befreiung zu erreichen, als produktiv bezeichnen?“
„Nicht unbedingt“, erwiderte er. „Von meinem Standpunkt aus kann es sowohl produktive wie unproduktive Meditation geben.“
„Was ist der Unterschied?“, fragte ich.
„Viele Dzogchen -Praktizierende 8 , aber auch die Übenden anderer Meditationsformen, benutzen unterschiedliche Techniken; manche meditieren mit geschlossenen Augen, manche mit offenen Augen, doch der eigentliche Zweck dieser Meditation ist es, einen Zustand zu erreichen, der leer von jeglichem Gedanken ist. Aber in gewisser Weise ist es in dieser Art Retreat auch so, als würden sie vor Problemen davonrennen. Und wenn sie dann tatsächlich mit Schwierigkeiten im Alltag konfrontiert werden und vor wirklichen Lebensproblemen stehen, hat sich nichts geändert. Ihre inneren Einstellungen und Reaktionen sind gleich geblieben. Diese Art der Meditation schaltet Probleme einfach aus; es ist, als ginge man zu einem Picknick oder als würde man ein schmerzstillendes Mittel nehmen. Damit löst man ein Problem nicht wirklich. Manche Menschen bringen vielleicht viele Jahre mit diesen Praktiken zu, machen aber im Grunde keinerlei Fortschritt. Das ist keine produktive Meditation. Echter Fortschritt stellt sich nur dann ein, wenn man darin nicht nur das Erreichen höherer meditativer Ebenen sieht, sondern wenn die Meditation zumindest einigen Einfluss darauf hat, wie man mit anderen umgeht; die Meditation sollte auch im Alltag Wirkung zeigen - man sollte geduldiger, weniger gereizt und mitfühlender werden. Das ist produktive Meditation. Etwas, was irgendwie auch dem Wohl anderer dient.“
Schließlich begann sich ein Bild abzuzeichnen. Ich sagte: „Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre Definition von produktiver Aktivität eine Aktivität, die ein positives Ziel hat.“
Wiederum schwieg der Dalai Lama eine geraume Weile, während er darüber nachdachte. „Aus meiner persönlichen Sicht, ja. Doch es geht nicht nur um ein positives Ziel. Denn selbst wenn Sie ein positives Ziel haben, so weiß ich nicht, ob Ihre Aktivität dann, wenn sie im Grunde niemandem nützt, als produktiv gelten kann oder nicht. Beispielsweise kann ein Mensch eine Menge studieren - lesen, lesen, lesen. Nun liest er vielleicht eine Unmenge von Seiten, aber wenn das weder etwas hervorbringt noch irgendeinen Nutzen bringt, dann ist es lediglich ein Zeitverlust. Doch das hängt natürlich auch vom Kontext ab. Aber ganz allgemein - wenn Ihre Aktivität oder Arbeit eindeutig dem Wohl anderer dient, dann würde ich sie als produktiv einstufen. Kurz gesagt, ich glaube, dass eine produktive Aktivität sinnvoll sein muss, indem sie auf ein spezifisches Ziel gerichtet ist. Zusätzlich muss es eine Aktivität sein, die dem Wohl der jeweiligen Gesellschaft förderlich ist und nicht schädlich.
Wenn man über das Wort ,produktiv“ spricht - wie wir es getan haben -, dann, glaube ich, denkt man im Allgemeinen zuerst einmal an etwas Materielles, Substanzielles, an etwas, das man sehen und nutzen kann - an eine Beschäftigung oder Aktivität, die irgendwelche
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