Gnadenlose Jagd
gesehen?«
»Nur solche mit vier Beinen, und die auch nur von weitem. Eigentlich hat Kilmer auch nichts anderes erwartet. Er ist nur vorsichtig.«
»Und du befolgst seine Befehle. Macht dir das nichts aus?«
Er überlegte. »Nein. Er ist höflich, und er weiß, was er tut. Er hat mir eine verdammt hohe Prämie gezahlt, als ich in sein Team gewechselt bin, er hat ein Recht, mir Befehle zu erteilen.« Er legte den Kopf schief. »Soviel ich weiß, hat er dir früher auch Befehle erteilt. Hat dir das etwas ausgemacht?«
Sie wandte sich ab. »Nein, du hast recht. Er weiß, was er tut.« Sie ging zur Tür. »Ich hole Frankie mal lieber rein, bevor ihr Essen kalt wird.«
»Mach dir darüber keine Gedanken, das merkt sie sowieso nicht. Ich weiß noch, wie sie diesen Blick hatte, als wir einmal zusammen Pizza essen waren. Sie hat uns gar nicht mehr wahrgenommen.« Er zuckte die Achseln. »Gut, dass sie etwas gefunden hat, was sie beschäftigt. Ich hatte schon Angst, dass sie dauernd bedrückt sein würde.«
»Sie denkt immer noch an Charlie, aber sie geht auf ihre eigene Weise damit um. Wie wir alle, nicht wahr?« Sie trat an Robert vorbei auf die Veranda. Die Sonne ging unter, und die rosa- und lavendelfarben geränderten Wolken über den Bergen boten ein grandioses Schauspiel. »Frankie?«
Frankie drehte sich zu ihr um. »Schön, nicht wahr, Mom?«
»Schön ist gar kein Ausdruck.« Grace setzte sich neben sie auf die Stufe. »Großartig. Aber es ist Zeit, etwas zu essen, Frankie. Wie wär’s mit etwas Suppe und Knoblauchbrot?«
»Okay.« Frankie schaute wieder in den Sonnenuntergang. »Bei uns gibt es keine solchen Berge. Ich wette, Charlie hätte es hier gefallen.«
»Ganz bestimmt. Aber Charlie hatte lieber sanfte Ponys als bockende Wildpferde. Die Wildpferde hat er immer mir überlassen.«
»Ich hab nachgedacht. Ich glaube, er ist nicht immer so gewesen. Er war Soldat im Zweiten Weltkrieg, das ist ihm bestimmt vorgekommen wie ein Ritt auf einem bockenden Wildpferd.«
»Schlimmer.«
»Vielleicht mag er das Sanfte erst lieber, seit er alt ist. Als er jung war, hätte er vielleicht lieber Trommelwirbel gehört als Geigen, vielleicht hätte ihm Tschaikowsky besser gefallen als Brahms.«
»Könnte sein.« Sie legte Frankie einen Arm um die Schultern. »Worauf willst du hinaus, Kleines?«
»Ich muss einfach sorgfältig sein. Es muss zu Charlie passen. Weißt du noch, wie ich dir gesagt hab, dass ich die Musik wieder gehört habe und dass sie ganz leise war?«
»Ja.«
»Ich glaube, das könnte Charlie gewesen sein.«
Grace schwieg eine Weile. »Charlie ist nicht mehr bei uns«, sagte sie schließlich.
»Aber vielleicht ist er wie Musik. Man weiß nicht, wo sie herkommt, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht da ist. Glaubst du, das könnte sein?«
»Ich glaube, dass alles möglich ist.« Sie räusperte sich. »Und ich glaube, es würde Charlie gefallen, dass du ihn mit deiner Musik vergleichst.«
»Nein, nicht mit meiner. Das ist Charlies Musik.« Sie schaute wieder in den Sonnenuntergang. »Deswegen muss es stimmen. Bockende Wildpferde und sanfte Ponys und Trommeln und alles, was Charlie – Es muss einfach stimmen.«
»Ich verstehe dich.« Sie sah mehr als das Bild, das Frankie ihr beschrieb. Sie hatte zu Robert gesagt, dass Frankie auf ihre eigene Weise mit ihrer Trauer umging, aber sie hätte nie damit gerechnet, dass sie es mit einem Geschenk an Charlie tun würde. Oder vielleicht war es auch Charlies letztes Geschenk an Frankie. Wie auch immer, es war rührend und wunderbar und gut. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Frankie schüttelte den Kopf. »Es kommt ganz langsam. Erst ist es ganz leise, aber dann wird es allmählich immer lauter.« Sie sprang auf. »Ich hab Hunger. Lass uns reingehen und essen, und dann sehen wir nach den Pferden.«
Frankie war wieder ganz Kind, und Grace war froh darüber. Sie wusste nicht, wie lang sie sich noch hätte beherrschen können. »Gute Idee. Aber wir werden die Suppe in der Mikrowelle aufwärmen müssen.«
»Das mach ich. Schließlich hab ich dich hier draußen aufgehalten.« Sie öffnete die Haustür. »Ich wollte einfach ein bisschen mit dir reden. Es hilft mir, klarer zu sehen …« Die letzten Worte hatte Frankie mehr vor sich hin gemurmelt, als sie ins Haus gegangen war.
Klarer?
Grace hatte das Gefühl, dass Frankie alles sehr klar sah. Nur Kinderaugen konnten so klar sehen.
Sie schaute noch einmal in den Abendhimmel. Die Sonne war fast weg,
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