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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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zweiten Teil der Tragödie wieder aufwacht, ist das ein solcher neuer Anfang; während die Sonne aufgeht und Faust in den werdenden Tag hineinschlummert, ertönt der Gesang des Ariel:
Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile, / Sein Innres reinigt von erlebtem Graus.
    So weit so gut. Doch im letzten Akt werden wir Zeuge einer makabren Selbsttäuschung. Faust, der Erfolgreiche und Mächtige, wird jetzt von der Sorge belagert:
Wen ich einmal mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze, / Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter, / Bei vollkommnen äußern Sinnen / Wohnen Finsternisse drinnen.
Faust glaubt, dieses Gespenst der Sorge noch einmal abgewehrt zu haben, unter Aufbietung der letzten Kräfte. Doch sie schlägt ihn mit Blindheit. Er läßt sich immer noch nicht entmutigen:
Die Nacht scheint tiefer tief hineinzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht.
    Die meisten Interpreten haben dieses innere Licht gerühmt. Doch Goethe zeigt drastisch, wie elend Faust hier endet – ehe er später zum Himmel fährt –, und daß ihn das vielgerühmte innere Licht nicht vor einem schlimmen Mißverständnis bewahrt: Faust hört das Geklirre der Spaten und glaubt, man sei an der Arbeit für sein menschheitsbeglückendes Projekt der Landgewinnung –
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen
–, tatsächlich aber ist man dabei, ihm das Grab zu schaufeln.
    In dieser Szene von sardonischer Ironie geschieht es auch, daß der inzwischen schon fast vergessenen Wette endlich wieder gedacht wird. Faust, im Mißverständnis befangen – als würde hier für Millionen ein Jahrhundertwerk verrichtet, wo doch nur sein eigenes Grab geschaufelt wird –, überläßt sich euphorischen Visionen:
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Beschwingt von dieser Vision spricht er das Wort:
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, Du bist so schön!
Hat er nun die Wette verloren, oder rettet ihn der Konjunktiv? Darüber sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Goethe selbst hat sich unterschiedlich dazu geäußert, mal sprach er von einer Überlistung Mephistos, mal von einer Begnadigung Fausts. Wie auch immer, Fausts vorläufiges Ende vor dem allerletzten Ende ist ziemlich erbärmlich. Da schwelgt einer in seinen Projekten und merkt nicht, wie auf sein Ende hingearbeitet wird.
    Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er einerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichkeit eines Kanals bei Suez und über eine Verbindung von Rhein und Donau.
Diese drei großen Dinge möchte ich erleben,
sagte er,
und
es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch einige fünfzig Jahre auszuhalten.
Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerischer Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß
an der Spitze dieser Sekte
offenbar
sehr gescheite Leute
stünden. Doch ihre sozialistischen Methoden und die Unterordnung aller Lebenszwecke unter die materielle Wohlfahrt und den technischen Fortschritt, sowie ihre Ideen von Kollektiveigentum waren ihm ein Greuel. Dieser von ihm verabscheute Kollektivismus klingt in den hochpathetischen Worten Fausts an:
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen
. Das Volk mag dann vielleicht frei sein, nicht aber der Einzelne. Weil ihm sein Faust unter der Hand allzu saint-simonistisch geraten war, mußte Goethe ihn mit jener beißenden Ironie zu Grabe tragen, und darum war er auch erleichtert, als er Anfang 1832 von der gewaltsamen Auflösung der saint-simonistischen Organisation hörte.
Die Narren bilden sich ein die Vorsehung verständig spielen zu wollen
, sagte er über die Saint-Simonisten. Faust, der den nahen Tod nicht bemerkt und statt dessen in der Vorstellung schwelgt, in
Äonen
nicht unterzugehen, gehört er nicht auch zu diesen
Narren
?
    Jedenfalls triumphiert in der vorletzten Szene ein Mephisto, der sich nicht mehr als Clown, Antreiber und Anreger, sondern als abgründige Gestalt des

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