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Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Koestering
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bewegte sich nicht. Es war nicht zu erkennen, ob sie noch lebte. Wir lauschten – Totenstille.
    Ich zeigte auf die Treppe, die linker Hand in die Gruft hinunterführte. Siggi gab mir aber zu verstehen, dass ich hier oben warten solle. Er trat auf die erste Stufe, langsam und vorsichtig, darauf bedacht, nur kein Geräusch zu verursachen. Dort unten wartete er, Jens Werner Gensing, der kranke Möchtegern-Goethe.
    Siggi nahm die nächste Stufe, den Rücken zur Wand, die Waffe im Anschlag, drahtig und katzengleich. Dann die nächste Stufe, es war weiterhin kein Geräusch von unten zu hören. Er wusste sicher, dass wir kamen – was würde er tun? Würde er sich einfach festnehmen lassen?
    Die nächste Stufe – knack! Siggi duckte sich. Er musste wohl auf einen kleinen Stein getreten sein. Ich wagte nicht zu atmen. Noch immer kein Geräusch von unten. Und keine Möglichkeit, etwas zu sehen. Sehen – natürlich! Ich musste etwas sehen von hier oben. Ich legte mich auf den Boden und kroch zu der ovalen Öffnung, die von einem kunstvoll geschmiedeten hüfthohen Gitter umgeben war. Anna lag regungslos zwei Meter von mir entfernt. Zentimeterweise kroch ich näher an den Rand. Dann war ich dran, brauchte nur noch aufzustehen und über den Gitterrand zu blicken. Sollte ich es wagen? Würde er mich erwarten? Ich zog mich hoch und schob den Kopf über die Öffnung.
    Ich konnte klar die beiden Holzsärge von Goethe und Schiller erkennen. Viel weiter reichte mein Blick jedoch nicht, schemenhaft erahnte ich einige andere Särge, wusste aber nicht mehr, wer darin begraben lag. Das Blut schoss mir in die Schläfe, eine nie gekannte Hitze stieg in mir auf. Und plötzlich wusste ich, dass er mich erwartete. Aber ich konnte ihn nicht sehen.
    Von links kam Siggi die Treppe herunter. Er winkte mir zu, mich zurückzuziehen. Die Pistole im Anschlag, kam er Schritt für Schritt näher an die beiden Holzsärge heran. Sein Blick schweifte nervös durch den Raum. Ich zitterte. Draußen herrschte eine drückende Sommerhitze, hier drinnen war es eiskalt. Und ein Teil dieser Kälte kam aus meinem Inneren.
    Plötzlich fiel mir auf, dass direkt neben Goethes Sarg der Sterbeschemel stand. Von diesem Gegenstand angezogen, blieb mein Blick an Goethes Sarg hängen. Und dann sah ich etwas, das mich an meinem Verstand zweifeln ließ. Ja, nein! Doch. Tatsächlich: Ganz langsam, Millimeter für Millimeter hob sich der Deckel des Sarges.
    Ich musste mir mehrmals innerlich einen Stoß geben und zu mir selbst sagen, dass ich nicht an Geister glaubte. Siggi stand inzwischen mitten in der Gruft und drehte sich langsam um die eigene Achse, die Pistole immer im Anschlag. Als er gerade mit dem Rücken zu Goethes Sarg stand, sah ich einen großen, alten Pistolenlauf unter dem Deckel hervorkommen.
    Ich wollte Siggi warnen, etwas rufen, schreien. Ich formulierte es in meinem Kopf: Hinter dir! Vorsicht! Dreh dich um! Doch meine Stimme versagte. Mein Hals war dermaßen trocken, dass ich glaubte, nie wieder im Leben schlucken zu können. Es war wie in einem Albtraum, in dem man etwas rufen möchte, aber nicht kann. Ich wollte wenigstens meine Hand heben, aber auch das funktionierte nicht.
    Dann ging alles Schlag auf Schlag. Der Sargdeckel schnellte hoch und Jens Werner Gensing richtete sich zwischen Goethes Gebeinen auf, die Arme weit gespreizt, fast wie ein Gekreuzigter, die Pistole mit der einen Hand gen Himmel gerichtet, in der anderen Hand ein Blatt Papier. Eine grausame Szenerie.
    Siggi war gut trainiert. Er schnellte augenblicklich herum und feuerte hintereinander drei Schüsse ab. Der erste zerschlug Schillers Sarg. Der zweite traf Jens Werner Gensing in den Bauch, der dritte schlug mitten in seinen Kopf ein. Seine Schädeldecke wurde von der Wucht der Kugel förmlich zerfetzt, die Gehirnmasse trat aus und während er zusammensackte, verteilte sie sich langsam über Goethes Knochen. Eine Art Vereinigung im Tode. Jens’ rechter Arm fiel nach unten, die alte Pistole knallte auf den Sargboden. Dann drehte sich sein Körper langsam zur Seite, in eine unnatürliche, makabere Lage. Fast wie ein Zeichen, ein Zeichen für eine Person, die mit dem Ausdruck ihrer Gefühle nicht klargekommen war – nur die blau-gelbe Kleidung fehlte noch.
    Das SEK stürmte augenblicklich die Gruft. Befehle erklangen, Stiefel stampften auf der Treppe, aus Funkgeräten schallten verzerrte Worte, Scheinwerfer machten die Nacht zum Tag.
    Mitten in diesem Chaos stand auf einmal Anna neben mir.

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