Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
Nitis: Der König hat angeordnet, dass wir einen Teil unserer Arbeitskraft in den weltlichen Dienst stellen müssen.«
Die Priesterin war starr vor Entsetzen.
»Will der König etwa die Tempel zerstören?«
»Eine neue Wirtschaftsweise ist im Entstehen begriffen – ihr müssen wir uns anpassen.«
»Seit dem Zeitalter der Pyramiden beherrscht der Tempel die Wirtschaft! Die Menschen müssen sich an Maats Gesetz halten, es kann nicht sein, dass sich Maat den Schandtaten der Menschheit beugen soll.«
»Amasis hat entschieden, die Vorrechte der Tempel aufzuheben, die er für übertrieben hält. Ab sofort sind sie seiner Verwaltung unterstellt und dürfen, mit Ausnahme des sehr alten Heiligtums von Heliopolis und des von Memphis, nicht mehr an die Einkünfte aus ihren Ländereien rühren. Allein der König wird Steuern erheben, Priester, Bauern und Handwerker einstellen, ihnen ein Gehalt zahlen und für ihre Unterbringung sorgen. Unsere Werkstätten werden Stoffe für die Weltlichen herstellen und so zum Wohlstand des Landes beitragen.«
»Diesen Wahnsinn wird die Gottesdienerin niemals dulden!«
»Theben ist weit weg«, erinnerte sie der Hohepriester, »und sie herrscht nur über ein kleines Reich. Hier im Delta wird die neue Welt geboren.«
»Habt Ihr nicht selbst die Rückkehr zu den Werten aus dem Alten Reich gerühmt? Habt Ihr mir nicht die Aufgabe anvertraut, die Rituale der Urzeit wiederzubeleben? Richten sich unsere Bildhauer etwa nicht nach der Bildhauerkunst aus der Zeit des Pyramidenbaus?«
»An meiner Ansicht wird sich auch nichts ändern. Aber Amasis wendet seinen Blick auf Griechenland und seine hohe Beamtenschaft, der er die Ländereien unserer Tempel zuteilen will.«
»Werdet Ihr versuchen, dem König klarzumachen, dass er auf dem falschen Weg ist?«
»Sein Entschluss steht fest, Nitis, daran kann ich mit Worten nichts ändern. Erledigt Pythagoras sorgsam die rituellen Pflichten, die ihm anvertraut wurden?«
»Er verhält sich wie der vollkommene reine Priester.«
»Er als Grieche könnte vielleicht einen gewissen Einfluss auf den König ausüben. Zuvor sollten wir ihn aber noch weiter auf die Probe stellen und müssen vor allem das nächste Fest für die Göttin vorbereiten. Sie allein kann uns vor dem Schlimmsten bewahren, und unser Dienst an ihr duldet deshalb keinen Aufschub und keine Fehler.«
»Menk und ich arbeiten sehr gut zusammen«, versicherte ihm Nitis. »Er legt großen Wert auf seinen Ruf als ausgezeichneter Festveranstalter, weshalb er keine Kosten und Mühen scheut.«
»Bleibe trotzdem wachsam«, empfahl ihr Wahibra. »Noch wissen wir nicht, welche Rolle dieser Inbegriff von Höfling spielt.«
»Da ich nicht ein einziges Wort der verschlüsselten Schrift entziffern konnte, bitte ich um Eure Erlaubnis, dem verstorbenen Leiter des Übersetzeramts einen Brief zu schreiben und ihn um seine Hilfe zu bitten«, sagte Nitis.
»Du willst einem Toten schreiben?«
»Ich hoffe, dass er bereit sein wird, uns zu antworten.«
»Überlege dir gut, was du schreibst, Nitis. Wollen wir hoffen, dass du ihn mit deinem Zauber überzeugen kannst.«
Nitis betrat die kleine Kapelle mit dem Grab des Übersetzers. Auf den Opfertisch legte sie ein Brot aus Stein und schenkte frisches Wasser ein.
Das sanfte Abendlicht erhellte den zugänglichen Teil der ewigen Ruhestätte. Hier konnten die Lebenden mit den Toten Verbindung aufnehmen.
Mit erhobenen Hände betete die Priesterin nun die kleine Statue des Ka an, der Lebenskraft, die dem Tod entrinnt, nachdem sie einem Wesen für die Zeit seines irdischen Daseins mineralisches, pflanzliches, tierisches und menschliches Leben geschenkt hat.
»Friede sei mit dir, mögest du mit dem Licht des Ursprungs vereint sein«, wünschte sie dem Ka.
Dann befestigte Nitis einen kleinen Papyrus am Hals der Statue. In ihrem Brief an den Toten bat sie ihn, ihr zu helfen, die wahren Schuldigen zu finden, um das Leben eines Unschuldigen, des Schreibers Kel, zu retten. Wenn die Seele sich von der Sonne genährt hatte und die Ka -Statue belebte, konnte sie dann eine Antwort aus dem Jenseits bringen?
In der Morgendämmerung begab sich Nitis vor die Tür der Kapelle.
Sie trug ein langes Ruhmesgedicht über die Wiedergeburt der Helligkeit nach einem erbitterten Kampf mit den Schatten vor, trat über die Schwelle und blieb in der Mitte des bescheidenen Heiligtums stehen.
Irgendwie hatte die Priesterin das Gefühl, nicht allein zu sein.
War ein gefährliches Ungeheuer
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