Goettin - Das Erwachen
Weile nicht mehr Laufen gewesen, deshalb war dieses Unterfangen noch schwieriger. Vorsichtig stand er auf und entfernte sich etwas. „Und jetzt?", fragte Lee hinter ihm unsicher. „Jetzt werde ich meinem Wolf Auslauf verschaffen. Sag dem Rudel, dass ich schon mal los bin." knurrte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Soll ich gehen?", bot Lee an. Er wusste, dass sie dieses Angebot machte, um ihm zu helfen. Trotzdem ließ es seine Emotionen nur noch höher kochen. „Untersteh dich!", fuhr er sie an. „Aber." Nun war er in der Mitte der Lichtung angekommen und fühlte sich sicher genug, um sie wieder anzusehen. Sie kniete auf der Decke und sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Amüsement an. Er räusperte sich. „Du wirst dich nicht bewegen, bis ich wieder hier bin. Dann werde ich dich, bis wir an einer Tanke waren und Gummis besorgt haben, nicht anfassen. Und für heute Nacht kannst du dich schon mal darauf einstellen, dass du sehr wenig schlafen und dafür sehr viel schreien wirst." Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte los. Im Laufen zog er sich hektisch die Kleider aus und verwandelte sich, sobald es möglich war, ohne sich in seiner Jeans zu verheddern.
Der Wolf jubelte über die Freiheit und er preschte los. Die Schmerzen von Lees Schlag ignorierte er. Schon bald hatte er die Fährte eines Rehs aufgenommen und beschäftigte sich damit intensiv. Er wollte es nicht jagen. Bei dem Gedanken jetzt etwas zu reißen wurde ihm eher schlecht, aber damit konnte er seinen Wolf beschäftigen. Eigentlich nicht nur seinen Wolf. Nach einer Weile tobte er durch das Unterholz, genoss die Freiheit und jagte nur zum Spaß ein paar Vögel. Das brennende Verlangen, sein läufiges Weibchen zu nehmen, ebbte ab. Hätte er sich regelmäßiger verwandelt und keine Schmerzen, hätte er diesen Instinkt vermutlich besser unter Kontrolle gehabt. Nun zwang er sich noch ein bisschen weiter zu laufen, als es nötig gewesen wäre. Aber alleine durch das Wandeln ging es ihm besser. Er war entspannter. Das war die normaler Reaktion darauf und deshalb war das Verwandlungsverbot für Seinesgleichen auch so eine harsche Strafe.
Er zollte seinen Schmerzen ein wenig Tribut und fiel in einen angenehmen Trab. Langsam senkte sich die Dunkelheit über den Wald und wenig später hörte er seine Meute auf ihn zukommen. Er beschloss heute nicht mehr mit ihnen zu laufen. Schließlich würde die Nacht nicht nur für Lee anstrengend sein. Mit einem kurzen Schütteln signalisierte er Mario, dass er heute die Führung hatte und trottete weiter auf die Lichtung zu. Seine Leute folgten Mario, ohne zu zögern. Hinter sich hörte er sein Rudel leise heulen und toben. Sollten sie ihren Spaß haben. Vorsichtig näherte er sich Lee so, dass ihr Duft zu ihm geweht wurde. Er wollte gewarnt sein, sollte die Runde durch den Wald nicht ausgereicht haben. Als er sie roch, stellte er zwei Dinge fest. Zum Einen empfand er ihren Duft nun eher wie ein anregendes Parfum und nicht mehr wie eine Kette, die ihn erbarmungslos zu ihr zog. Das Andere war die Tatsache, dass sie nicht alleine war. Pino war bei ihr. Er wollte ihr zur Hilfe eilen, immerhin war sie läufig und der Wandler vor ihr hatte seit Monaten nur als Mensch existiert, aber er zögerte. Er respektierte die lange Freundschaft, die zwischen den Beiden bestand oder viel mehr bestanden hatte. Außerdem hatte er sehr wohl bemerkt, wie mies die Stimmung zwischen ihnen war und wie sehr Lee sich damit quälte. Geduckt schlich er sich an. Er wollte in der Nähe sein, sollte Pino mal wieder eine Dummheit begehen, aber er ließ ihnen den Raum für das längst fällige Gespräch.
Als er in Hörweite war, bemerkte er das dieses Gespräch bereits in vollem Gange war. Um nicht zu stören, blieb er, wo er war. Von dort konnte er die Beiden nicht sehen, aber die Senke im Waldboden hielt ihn vor Pino verborgen. „Hast du eine Ahnung wie sich das anfühlt? Du bist von meinem Bett praktisch direkt in das Bett von diesem Wolf gehüpft." Pinos Stimme drang laut und wütend zu ihm. Die Worten „von diesem Wolf" hatte er ausgesprochen, als hätte Liam Lepra. Er ließ die Beleidigung an sich abprallen. Nun war er sich wenigstens sicher, dass Pino ihn noch nicht bemerkt hatte und sie es wirklich, ehrlich klären konnten. „Ich kann in deinen Kopf sehen, Pino. Also ja, ich habe eine Ahnung." Lees Stimme war viel freundlicher, aber ähnlich laut. Offenbar hatte sie einen Sicherheitsabstand zu Pino geschaffen. Kluges
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