Goettin - Das Erwachen
An dem langen Tisch aus schönem Mahagoni kamen sie immer zusammen. Sie lachten hier gemeinsam, sie weinten hier gemeinsam und manchmal aßen sie hier tatsächlich auch. Der Tisch zeigte nach der langen Zeit Spuren auf. Lee hatte hier schon als Kind gesessen, gemalt oder Schulaufgaben gemacht. Jeder Kratzer und jede Macke erzählte eine Geschichte von ihrer Familie.
Ihr Geburtstagsessen hatten sie auf den Sonntagabend verlegen müssen, dass auch alle kommen konnten und ihr Vater hatte wieder einmal ein grandioses Essen gezaubert. Eben hatten sie den Kuchen, den ihre Schwester gebacken hatte, zum Nachtisch vernichtet. Nach dem gestrigen Tag war Lee froh gewesen, dass sie etwas Zeit zum Grübeln hatte. Sie hatte niemandem von den Vorfällen erzählt. Wer würde ihr schon glauben? Ihr war immer noch unbegreiflich, warum sie keine Angst hatte. Sie spürte eher Hoffnung und Abenteuerlust. Und sie hoffte, dass Liam ihr wirklich die vielen Fragen, die sie hatte, beantworten würde. Nach dieser Feier. Erst wollte sie ihre fast heile Welt genießen. Sie sank mit einem genüsslichen, satten Seufzen auf ihrem Stuhl zurück, während sie sich die letzte Gabel Schokokuchen in den Mund schob, und sah ihre Familie an. Ihr Vater hatte ihren Neffen Tim auf dem Schoß. Dabei versuchte er ihren Neffen davon zu überzeugen, dass der Löffel voller Brei, der da angeflogen kam, eigentlich ein Hubschrauber war. Tim fand es wohl aber spannender, den Löffel mit seinen Händen abzufangen und alles in Reichweite mit Brei zu bespritzen. Er gluckste fröhlich und Lee musste ebenfalls grinsen. Bis zu Timmis Geburt, vor einem drei viertel Jahr, hatte sie sich nie Gedanken über Kinder gemacht. Erst der süße, kleine Kerl mit seinen großen Knopfaugen ließen sie über ihren eigenen Kinderwunsch nachdenken. Allerdings fühlte sie sich in der Rolle der coolen, etwas abgedrehten Tante deutlich wohler, als bei dem Gedanken selbst eines zu bekommen. Sie sah zu ihrer Schwester Isa und ihrem Schwager David hinüber. Sie verfolgten fasziniert und voller Liebe das Hände versus Hubschrauber Massaker. Ja! Hier fühlte sie sich wirklich wohl! Isabell sah zu ihr auf. „Terrasse?" Lee nickte und stand auf.
Der Abend dämmerte und die Luft hatte sich wieder deutlich abgekühlt. Hinter ihr trat Isa auf die Terrasse und gab ihr eine Zigarette weiter. Schweigend inhalierten die beiden ein paar Züge und genossen die Ruhe. „Wie fühlt man sich mit dreißig, Schwesterherz?", wollte Isa wissen. „Auch nicht anders als vorher.", log Lee.
Ja, im Lügen und Schauspielern war sie schon immer gut gewesen. Wie sonst konnte sie heute hier sein und so tun, als wäre alles wie sonst auch? Sie hatte gestern Dinge gesehen, gehört und gefühlt, die sie nie für möglich gehalten hätte. Seit sie gestern aufgewacht war, fühlte sie sich so anders. Lebendiger, mutiger und irgendwie vollständiger. Doch trotzdem konnte sie das alles noch nicht begreifen. Sie war heute Morgen schon fast überzeugt gewesen, dass sie sich das alles zusammen gesponnen hatte. Dummerweise hatte sie dann Liams SMS erreicht. „Kätzchen, wir müssen wirklich reden! Komm heute Abend vorbei. Ich werde dir wie versprochen alles erklären." Wenn das Versprechen echt war, musste es alles andere wohl auch sein. Sie würde hingehen. Nicht nur, weil sie wirklich neugierig auf Liams Erklärungen war. Sie musste sich auch über ihr Gefühlschaos klar werden. Als sie gestern Liams Erregung an ihrem Schenkel gespürt hatte, war sie wirklich erschrocken gewesen. Es durfte ihr nicht gefallen, von Liam begehrt zu werden. Das Gefühl hatte sich allerdings im Laufe des Tages verändert. Heute Nacht hatte sie sich sogar einer erotischen Fantasie mit dem Ex ihrer Schwester in der Hauptrolle hingegeben. An all das dachte sie, während sie Isa ins Gesicht lächelte. Jupp, sie sollte für die Vorstellung hier einen Oscar bekommen.
Oh Gott! Sie war ein wirklich abgrundtief schlechter Mensch! Um ihr wirklich schlechtes Gewissen zu beruhigen, fragte Lee: „Bist du glücklich?" Dabei wies sie mit dem Kinn auf die Terrassentür, hinter der sich Isabells Mann David und ihr gemeinsamer Sohn befanden. „Ja, Lee. Ich bin wirklich glücklich. David und ich sind wirklich glücklich." Isa verzog nachdenklich das Gesicht und sah Lee an. „Ich weiß, dass du anders bist. Du wärst damit nicht zufrieden, oder?" Sie beantwortet die Frage gleich selbst. „Nein, du brauchst etwas Anderes, um glücklich zu werden. Was oder wer
Weitere Kostenlose Bücher