Goettin - Das Erwachen
sehen. Seit Monaten ging sie fast jeden Tag hier her. Trotzdem war das Risiko hoch, dass sie sich im Stockdunkeln im Wald verlaufen würde oder stürzte. Sicher hätte sie Liam zu seinem Auto gebracht, wenn sie ihn bat und das Rudel warten lassen.
„Nein, ich kann das ja auch noch später machen.", entschied sie laut. So oft, wie Liam sie dem Rudel vorzog, konnte sie auch mal wegen des Rudels zurückstecken. Außerdem musste sie sich langsam der Verantwortung stellen. „Wird heute auch nicht all zu lange dauern. Es dürften nicht viele kommen." Liam hatte sich in der Mitte der Lichtung ins Gras gesetzt und sie setzte sich zu ihm. „Warum? Ist denen heute auch zu heiß?" Es war bereits so dunkel, dass sie Liams dunkle Haut kaum noch von dem dunklen Wald hinter ihm unterscheiden konnte. Nur seine weißen Zähne, die aufblitzten, als er sie anlächelte, zeigten ihr seine Reaktion. „Auch ein Grund. Mario und Claudi sind mit ihrem Neugeborenen beschäftigt und Pino und Miriam haben Verwandlungsverbot." Lee nickte und fragte sich, ob Liam das überhaupt noch sehen konnte.
Trotzdem würden heute eine ganze Schar von Wandlern herkommen. „Woher kennst du denn die Leute aus deinem Rudel?" Liam beugte sich vor und gab ihr einen schnellen Kuss. „Die sind mir irgendwie alle zugelaufen." Vor Lees innerem Auge entstand ein Bild, wie Liam durch die Lande zog und einfach alle Streuner mitnahm. Nein, ganz so konnte es nicht gelaufen sein. „Einfach so?" Naja fast. Ich hatte Anfang der Achtziger noch einen Laden in München. Josh und ich haben in so einer Art Misch-WG gewohnt. Irgendwann sind dann Mario und Claudia aufgetaucht. Sie waren auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sicher waren und eine Familie gründen konnten, und waren fasziniert, dass ich einen Waffenstillstand mit dem Vampir in der Stadt ausgehandelt hatte. Trotzdem waren sie, wie fast alle Wandler, der festen Überzeugung, dass Vampire immer Feinde blieben, auch wenn sie nicht angriffen. Deshalb habe ich ihnen nie etwas von der Freundschaft zwischen Josh und mir erzählt. Immer wenn Josh in ihren Unterhaltungen auftauchte, wechselten sie zur Telepathie. Daher war Lee nicht erstaunt, dass Liam auf diese Weise antwortete. Sie fand es furchtbar, dass der Hass zwischen den Völkern auch bei den Friedfertigsten, wie Mario und Claudi, so tief saß und ihre Bewunderung für Liam und Josh stieg noch ein bisschen. Sie waren allen Vorurteilen und Hindernissen zum Trotz Freunde geworden. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung.
Und dann? Es war schön, dass Liam ihr endlich von seiner Vergangenheit erzählte und sie wollte ihn dazu bewegen, weiter zu erzählen. Irgendwann sind dann noch Chris und Robert dazu gekommen und wir wurden zu einem Rudel. Lee runzelte die Stirn. War Robert der Buchhändler oder der bierbäuchige Hausmeister? Sie nahm sich vor, die Namen auswendig zu lernen. Es hat sich herumgesprochen, dass es in München ein Rudel gab, das friedlich lebte. Also haben sich uns immer mehr angeschlossen, die nicht mehr kämpfen wollten oder einen Lebensabend ohne Angst erleben wollten. Lee musste lächeln. Wer würde schon darauf kommen, dass der angsterregende, schwarze Riese in seiner Welt für Frieden stand? Wie seid ihr dann hierher gekommen? Fragte Lee. Wir wurden irgendwann so viele, dass wir in der Großstadt nicht mehr genügend Wald hatten um jagen zu gehen. Und es wurde irgendwann zu auffällig, dass wir nicht oder nur sehr langsam altern. Deine Mom hatte mir von der Gegend erzählt. Daher ... Mehr bekam Lee nicht mehr mit.
Wie aus heiterem Himmel schoss etwas Graues an Liam vorbei auf sie zu und stieß gegen ihren Oberkörper. Sie erschreckte sich zu Tode, stieß einen spitzen Schrei aus und riss die Arme vors Gesicht. Damit konnte sie sich nicht mehr abfangen und fiel rückwärts ins weiche Gras. Über ihrem Gesicht erschien eine Schnauze. Nur weil Liam keine Reaktion zeigt und sie wusste, dass das Rudel kommen wollte, konnte sie gerade noch den Impuls, ihren Angreifer gegen den nächsten Baum zu schleudern, unterdrücken. Sie atmete durch und drückte den Wolf am Hals zurück. Der bewegte sich nur leider nicht und schleckte ihr über das Gesicht. „Runter, Frank. Wenn hier jemand meine Freundin besteigt, dann bin ich das." Liams Stimme hörte sich völlig gelassen an und trotzdem wich der graue Wolf augenblicklich zurück. Lee rappelte sich wieder in den Schneidersitz auf und sah sich um. Hinter Liam tauchten ein halbes Dutzend
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