Goettinnensturz
normalerweise.
Vielleicht war es besser, dass er momentan weg war. Bis Gras über die Sache gewachsen war. Über diesen … Vorfall bei der Demo. Sie hatte zu lang geschwiegen. Und dann war er gegangen, bevor sie den Mut zum Reden aufgebracht hatte. Wenn nur Johnny dichthielt, sein Bildmaterial unter Verschluss blieb! Ja, sie hatte Monika angegriffen. Es war dumm gewesen von ihr. Aber Monika hatte sie provoziert. Mit ihrem Schmuckstück, diesem NS-Symbol, und mit ihrer Weigerung, den alten Nazi von der Gästeliste zu streichen. Und weil sie Berenike einfach aus dem Weg geschoben hatte. Als wäre sie ein lästiges Insekt. Das war zu viel gewesen …
Berenike verdrängte all die Bilder. Und dieses knackende Geräusch, das sie wieder und wieder zu hören meinte. Wie Knochen auf Knochen trafen und etwas splitterte.
Sie musste sich beschäftigen. Mit irgendwas. Das Alleinsein fühlte sich zu komisch an. Seltsam, wie sehr sie sich daran gewöhnt hatte, mit Jonas zusammen zu sein. Am Anfang hatte sie sich umstellen müssen, sie hatte immer allein gelebt. Da war sie sehr bedacht gewesen auf ihre Freiheit. Die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen – wer hatte das gesagt?
Kontrolle im Spiegel – alles so, wie es sein sollte. Lächeln und los! The show must go on, wenn man selbstständig war. Ihr Kummer interessierte niemanden. Nicht die Sozialversicherung, auch nicht das Finanzamt und schon gar nicht ihren schlitzohrigen Vermieter. Also raus und – Klappe!
Lieselotte hatte ihr den Tisch neben der Theke gedeckt, sehr hübsch. Grüne Tasse, roter Teller – Berenike war nach Jahren noch von den Farben begeistert. Wie hübsch das auf der Tischplatte aus schwarzem Holz aussah. Die Semmeln dufteten, ein frisches Glas Marillenmarmelade und Butter standen bereit. »Welchen Tee möchtest du?«, fragte die Kellnerin und lächelte sie an, als wäre sie ein ganz besonderer Gast. Vielleicht wurde aus dem Tag doch noch was. Vielleicht wurde alles gut. Vielleicht war alles halb so schlimm. Und es gab eine simple Erklärung, warum Jonas verschwunden war. Vielleicht käme er einfach am Abend zu ihr. Jonas …
»Was mit Minze«, bat Berenike und warf im Vorbeigehen einen Blick in den Kalender. Oh, an diesem Abend fand Sylvies Buchpräsentation statt. Die junge Frau gehörte zur Autorengruppe ›Pessoas Erben‹, die sich nach einer Pause wieder häufiger in ihrem Salon für Tee und Literatur traf. Sylvie war seit Jahren mit dem Bademeister Stefan liiert. Die Veranstaltung hätte Berenike über all der Aufregung fast vergessen. Sylvie hatte kürzlich ihren ersten Roman herausgebracht – ›übersinnliche Chick lit‹, wie sie es nannte. Zum Glück lagerten bereits 50 Stück ›Sechster Sinn – siebter Himmel‹ im Literatursalon.
Schnell rief sie bei Sylvie an. »Bleibt es bei deiner Lesung heute Abend?«
»Aber natürlich, Berenike, was hast du gedacht? Die Buchparty muss stattfinden.«
»Dann ist es ja gut.«
»Das Leben geht weiter, Berenike«, sagte Sylvie. »Es endet nicht mit dem Tod. Ich dachte, dir muss man das nicht mehr sagen.«
Berenike schwieg. Wie sie zu vielem schwieg. Das wurde noch zur Gewohnheit. Ob das gut war, blieb dahingestellt.
»Ich habe mir etwas Besonderes ausgedacht für heute Abend, eine mystische Überraschung – du wirst schon sehen. Die Gäste werden begeistert sein.«
»Es ist dein Abend, Sylvie. Alles steht für dich bereit. Bücher, Getränke und einen hübschen Imbiss werden wir vorbereiten.« Der Betrag, den Sylvies Verlag für die Veranstaltung springen ließ, machte in der Hinsicht keine großen Sprünge möglich.
»Zu einem Tausch kann ich dich nicht überreden, was? Damit du ein warmes Essen anbietest? Ich würde dir einen Stapel Bücher überlassen. Der Gewinn aus dem Verkauf würde dir gehören.«
»Das hatten wir doch alles schon, Sylvie. Bitte versteh mich, das kann ich nicht machen.«
»Schade, ich tausche gern, weißt du. Ich habe Konsumverzicht zu schätzen gelernt«, plapperte Sylvie, als hätte Berenike nichts gesagt.
»Bitte, noch einmal, um dein Verständnis. Ich mache für deine Gäste Gurkensandwiches und einige Sorten Tee schenke ich auch aus. Ayurveda-Tee mit Hanfblättern, den wolltest du doch?«
»Jaja«, Sylvie klang mürrisch, »schon gut. Bis später.«
*
Es wurde ein langer Tag. Der in einen noch längeren Abend überging. Ständig herrschte Hochbetrieb. Gut für ihr Konto, aber Berenike spürte schon jetzt, als die letzten Tagesgäste aufbrachen,
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