Gohar der Bettler
verändert«, sagte die Mutter.
Sie mußte verrückt sein. Yeghen verspürte das Bedürfnis, sich im Spiegel zu betrachten. Einen Moment lang glaubte er an ein Wunder, durch das sich sein Gesicht verändert hatte. Aber nein, es war alles viel einfacher. Er hätte wissen müssen, daß ein Affe in den Augen seiner Mutter die Anmut einer Gazelle besaß. Es hatte keinen Wert, sich Illusionen hinzugeben. Es war noch nicht einmal Mitleid; vielmehr eine Antwort, die dem mütterlichen Empfinden entsprang. Ihm schien, als sei sie mit ihrer Antwort zufrieden und würde ernsthaft an das glauben, was sie sagte.
»Und mein Vater?«
»Was soll mit deinem Vater gewesen sein?«
»War er schön?«
»Dein Vater war ein ehrbarer Mann.«
»Du machst Scherze!«
Yeghen stampfte vor Freude mit den Füßen. Sein Vater! Wie oft hatte sie ihm nicht schon gesagt, daß sein Vater ein ehrbarer Mann gewesen sei. Und doch waren sie durch seine Schuld ins Elend gestürzt worden. Er war der Erbe einer großen Familie von Landbesitzern und hatte sein riesiges Vermögen beim Spiel und bei wüsten Gelagen durchgebracht. Bei seinem Tod hinterließ er nichts als Schulden. Yeghen war damals noch sehr jung; vom Tod seines Vaters und vom finanziellen Ruin hatte er kaum etwas mitbekommen. Nur durch die überall zirkulierenden Gerüchte erfuhr er von den unglaublichen Eskapaden seines Vaters, einem Mann, der mindestens drei Frauen gleichzeitig im Bett haben mußte, um sich wohl zu fühlen. Ein echter orientalischer Potentat.
Seine Mutter sprach niemals mit ihm darüber, sie hielt dieses Thema für anstößig: Seinen Mann verurteilte man nicht. Sie mußte der Meinung sein, daß es ein unvermeidliches und erstrebenswertes Los sei, wenn man durch seinen Mann Leid zugefügt bekommt. Yeghen hatte aus ihrem Munde niemals ein vorwurfsvolles Wort über den Verstorbenen gehört; sie hielt an ihrem Glauben fest, er sei ein ehrbarer Mann gewesen. »Reichtum entschuldigt alles«, dachte er. »Meine Torheiten mißbilligt sie, weil ihnen der Makel des Elends anhaftet.« Wenn man arm ist, hat man kein Recht auf schlechtes Betragen. Dieser Grundsatz war für sie die einzige Wahrheit, die es auf der Welt gab.
Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ging sie jetzt dieser demütigenden Beschäftigung nach: Sie besserte die Wäsche wohlhabender Familien aus, die sich ihres Unglücks erbarmten. All die Jahre erbitterter Kämpfe mit diesem nichtsnutzigen Sohn, dem ein schreckliches Schicksal beschieden war, konnten ihre Meinung über das unmögliche Verhalten ihres Mannes in keiner Weise verändern. War er nicht ein reicher und angesehener Mann gewesen? Das entschuldigte alles. Eine solche Treue zur besitzenden Klasse war für Yeghen einfach unvorstellbar. Nur diese Treue hielt sie noch am Leben. Das Andenken an den Verstorbenen hatte keinen anderen Zweck, als diesen Respekt, der sich dem Reichtum verdankte, aufrechtzuerhalten.
In diesem Raum im Souterrain mit seinem schadhaften Fliesenboden war es so feucht, daß das Wasser an den Wänden herunterlief. Trotz des langsamen Verfalls der Möbel, trotz des heimtückischen und fortschreitenden Elends stand immer noch der üble Geruch bürgerlicher Sicherheit im Raum. Unter den ins Dunkel getauchten, bunt zusammen gewürfelten Gegenständen stach eine an der Wand thronende, stattliche und schön geschnitzte Holzanrichte hervor, die sie vor dem Verfall bewahrt hatte. Erst die Anrichte war es, die im Zimmer diese dubiose Atmosphäre schuf, die Yeghen so sehr bedrückte. Er hätte lieber auf der Straße geschlafen, als in dieser elenden, Rechtschaffenheit ausdünstenden Behausung zu wohnen! Ihm schien, als würde die Anrichte - eine sich in der Dunkelheit abzeichnende unförmige Masse - ihn mit ihrer ganzen Größe bedrohen. Yeghen schauderte. Er fror, aber außer dem kleinen Spirituskocher, auf dem die Suppe köchelte, gab es nichts, um diese eisige Höhle zu beheizen. Niedergeschlagenheit befiel ihn; genau davor fürchtete er sich am meisten, wenn er seine Mutter besuchte. Sie beherrschte die Kunst, Niedergeschlagenheit zu erzeugen; sie spann die Fäden des Unglücks wie eine Spinne ihr Netz.
Yeghen schüttelte sich, wie um die Kälte zu vertreiben. Er spürte, daß etwas an seinem Bein entlangstrich und hörte ein leises Schnurren: die Katze. Wo hatte die sich denn die ganze Zeit versteckt? Er beugte sich nach unten, um nach ihr zu greifen, setzte sie auf seinen Schoß und begann ihr Fell zu streicheln. Das kleine Tier
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