Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
vorbei.
»Woher wissen Sie so genau, wie wir gehen müssen?«, fragte er. »Ich sehe keinen Unterschied zwischen Weg und Wechte.«
Mauracher antwortete, ohne den Blick vom Weg vor sich abzuwenden. »Ich war schon oft im Winter hier oben. Ich weiß genau, wie der Grat verläuft. Jetzt müsste bald die Stelle kommen, an der wir ohnehin in Richtung Gletscher abdrehen müssen, oder?«
Sie standen vor der anspruchsvollsten Aufgabe ihres Ausflugs in die Zillertaler Berge: exakt den Punkt zu finden, an dem die Goldgräber den Weg verlassen hatten. Wachtler hatte sogar angeboten mitzukommen, doch Vincenzo konnte keinen Zivilisten in einen Fall hineinziehen.
Immerhin hatte der Naturkundler den Abzweig genau beschreiben können. »Ein kleiner Gletscherrest, der zwischen zwei schmal zusammenlaufenden Felswänden endet, ungefähr nach einem Drittel des Weges von der Hütte zum Gipfel. Nicht zu verwechseln mit dem Hauptgletscher, den man später passiert. Direkt vor dem Eisrest geht es nach Nordwesten auf die vordere Weisspitz zu, dann nähert ihr euch dem Weißkarferner. Nach etwa zweihundert Metern solltet ihr die kleine Schlucht erreichen, in die Thaler abgestiegen sein muss. Kurz davor liegt der Eingang zum Stollen. Wenn ihr Glück habt, ist er nicht vom Schnee zugeweht.«
Mit einer gewissen Genugtuung stellte Vincenzo fest, dass Mauracher geradewegs an dem von Wachtler beschriebenen Abzweigpunkt vorbeigelaufen war. Er blieb stehen und ließ sie ein paar Meter weitergehen, bevor er sie lachend zurückrief. »Sie erkennen Wechten, ich Wege. Wir sind ein perfektes Team.«
Grinsend kam die Polizistin zurück und ging an ihrem Vorgesetzten vorbei, direkt auf den Gletscher zu. Vincenzo folgte ihr auf seinen Schneeschuhen.
* * *
Hotel Christine
Marzoli war sofort nach dem Telefonat mit Bellini aufgebrochen. Weil viele Kollegen in der Woche nach Ostern Urlaub genommen hatten, war ihm ein junger Kollege als Begleitung ins Pflerschtal zugewiesen worden. Es hatte schon seine Gründe, dass Marzoli immer noch Ispettore war und es vermutlich auch immer bleiben würde. Er machte seine Arbeit gern, war zuverlässig und pflichtbewusst, scheute nicht die eine oder andere Überstunde, wenn ein komplizierter Fall dies erforderte, aber er hatte seine Schwächen, und das wusste Marzoli selbst genau. Das Verhören von Zeugen und Verdächtigen gehörte dazu. Lieber überließ er das dem smarten, wortgewandten Commissario und schlüpfte selbst in die Rolle des Protokollanten. Er konnte gut zuhören, kam jedem Widerspruch auf die Schliche und konnte Bellini auf diese Weise bestens zuarbeiten. Sie waren ein gutes Team, zumal es auch menschlich harmonierte. Mit Mauracher hatte er allerdings nach wie vor Probleme, und zwar weniger wegen ihrer Vorliebe für seine Cantuccini, sondern wegen ihrer forschen Art, die er für eine junge Frau unangemessen fand. Andererseits bedeutete ihr Selbstbewusstsein für ihn, dass er sich bei gemeinsamen Vernehmungen ein wenig zurückhalten konnte, was wiederum seinem Naturell entsprach.
Doch ausgerechnet jetzt war er auf sich allein gestellt. Der junge Kollege, Salvatore Borgogno, ein Römer, hatte gerade erst die Ausbildung für Mannschaften in Rom absolviert und war danach zu den Carabinieri nach Bozen gekommen. Die Carabinieri waren dem Verteidigungsministerium unterstellt, es sei denn, sie hatten, wie in diesem Fall, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Dann unterstanden sie dem Innenministerium. Hierin lag auch der Grund, warum der junge Mann, eigentlich bei den Carabinieri in Diensten, in der Questura seinen Dienst versah. Denn Colonello Diego Borgogno, Salvatores Vater, war Südtirols oberster Carabiniere und hatte seit seiner Kindheit einen engen Freund, den Capo della Polizia, Dottore Luciano Patricello, ebenfalls in Bozen wohnhafter Römer. Und so war Salvatore, entgegen der offiziellen Vorschriften, auf kurzem Dienstweg zwischen den beiden Ministerien vorübergehend von den überwiegend Italienisch sprechenden Carabinieri für ein sogenanntes Sprachpraktikum zur dem Innenministerium unterstellten Questura abkommandiert worden, denn dort war Deutsch die erste Amtssprache, die er noch kaum beherrschte.
Marzoli indes sprach beide Sprachen fließend. Nachdem seine Versuche, sich entsprechend des Zweckes des Praktikums auf der Fahrt auf Deutsch mit dem jungen Mann zu unterhalten, gescheitert waren, hatte er ins Italienische gewechselt. Salvatore schien ein netter
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