Gone 5: Angst (German Edition)
okay? Vielleicht findest du ja auch meine Familie …«
Ihr versagte die Stimme. Sie hatte Tränen in den Augen. Wo kamen die denn her? Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf, schob sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Ich meine, erzähl ihnen, dass der Wirbelwind nicht gekniffen hat. Der Wirbelwind hat nie aufgegeben. Versprichst du mir das?«
»Ja, Ma’am.«
»Ma’am?«, fragte Brianna belustigt. »Na egal. Bis dann!«
Sie bahnte sich ihren Weg nach unten. Mit der Zeit war sie dahintergekommen, wie sie sich schneller fortbewegen konnte. Sie benutzte ihre Machete, um Hindernissen auszuweichen, und hatte aus reiner Langeweile begonnen, verschiedene Muster und Figuren in die Luft zu zeichnen – eine Acht, einen fünfzackigen Stern, eine Zickzacklinie. Dabei schwang sie die Machete drei- bis viermal schneller als ein normaler Mensch. Nicht annähernd in ihrer gewohnten Geschwindigkeit, aber man musste sich anpassen.
Wenn die Machete auf ein Hindernis stieß, wurde sie langsamer und tastete sich weiter, bis der Weg wieder frei war.
Ab und zu suchte sie nach einem losen Stein, warf ihn nach vorne und lauschte, ob er den Abgrund hinunterfiel, von dem Justin gesprochen hatte. Sie hatte was gegen irre tiefe Abgründe.
Beim nächsten Steinchen wartete sie vergeblich auf seinen Aufprall.
Aha! Da ist er ja, dachte sie triumphierend.
Sie kroch auf allen vieren bis zum Rand des Abgrunds und brachte sich in eine Position, aus der sie geradewegs hinunterblicken konnte.
Augen offen halten und ja nicht blinzeln, sagte sie sich, zielte nach unten und drückte auf den Abzug.
Der Schuss aus einer Schrotflinte war nie leise, aber in der Enge des Stollens klang er wie die Explosion einer Bombe.
Das Mündungsfeuer tauchte die Felswand und einen Vorsprung in vielleicht sechzig Metern Tiefe in ein gespenstisches Licht.
Das Echo der Explosion hielt noch eine Weile an. Drake musste es auch gehört haben, es sei denn, der Stollen ging viel weiter runter, als sie sich vorstellen konnte.
Brianna lächelte. »Tja, Drakeylein«, sagte sie zufrieden. »Mich bist du noch lange nicht los.«
Zwei Schüsse. Zwei Lichtblitze.
Unmöglich zu sagen, wie weit entfernt. Dem Knall nach weit weg, dem Licht nach näher.
Das konnte irgendwer sein. Brianna. Astrid. Oder ein Trupp bewaffneter Kids, die sich verirrt hatten.
Eindeutig ein Gewehr, dachte Sam und fand es seltsam, wie beruhigend die Schüsse auf ihn wirkten.
Dass sie aus der Richtung des Minenschachts gekommen waren, war unwahrscheinlich. Der musste zu seiner Rechten liegen. Eher von der Straße, die nach Perdido Beach führte. Was nicht auf seinem Weg lag. Seine Mission lautete nicht, Astrid zu finden, wenn sie es denn war, seine Mission lautete …
»Scheiß drauf!«, sagte er laut. Wenn Astrid in Gefahr war, musste er ihr helfen.
Sam prägte sich die Richtung ein, aus der die Blitze gekommen waren, und lief los. Dabei zog er die Knie möglichst hoch, um nicht über etwas zu stolpern. Er schaffte es erstaunlich weit, bevor einer seiner Füße zum ersten Mal hängen blieb und er der Länge nach hinflog.
Entschlossen stand er auf und rannte weiter.
Das war heller Wahnsinn. Blind durch die Gegend zu rennen. Jeden Moment konnte er gegen einen Baum oder eine Felswand krachen oder einem wilden Tier in die Quere geraten. Inzwischen glaubte er jedoch fest daran, dass Astrid in Not war. Er hatte die Wahl: sich wie eine Schnecke fortzubewegen und dabei nirgendwohin zu gelangen. Oder seine Ängste zu unterdrücken und zu rennen, was das Zeug hielt.
Wieder fiel er hin, diesmal in ein störrisches Dornengestrüpp. Nur mit Mühe konnte er sich losreißen. Er rannte bereits weiter, während er sich noch die Dornen aus den Handflächen und von den Armen zupfte.
Sein ganzes Leben lang hatte sich Sam vor der Dunkelheit gefürchtet. Als Kind hatte er nachts in seinem Bett gelegen und sich gegen den Angriff der unsichtbaren, in seiner Vorstellung jedoch sehr realen Gefahr gewappnet.
Doch jetzt, in dieser ultimativen Dunkelheit, begriff er allmählich, dass die Angst vor der Dunkelheit im Grunde nur die Angst vor sich selbst war. Keine Angst vor dem, was da draußen auf ihn lauerte, sondern davor, wie er selbst darauf reagieren würde.
Er hatte Stunden um Stunden seines Lebens damit zugebracht, sich auszumalen, wie er mit den Monstern seiner Einbildungskraft kämpfen würde. Früher hatte er sich für die Heldenepen in seinem Kopf geschämt, diese endlosen
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