Gottspieler
haben wir sie vorübergehend auf der Intensivstation untergebracht, nur zur Vorsicht.«
»Gott sei Dank«, sagte Thomas. Sein Verstand raste. »Ich bin gleich da.«
Binnen weniger Minuten war er auf der Intensivstation und trat an Cassis Bett. Sie schien friedlich zu schlafen. Jemand hatte das rechte Auge vom Pflaster befreit.
»Sie schläft jetzt, aber Sie können sie ruhig wecken«, sagte eine Stimme an seiner Seite. Thomas drehte sich um und sah Dr. Obermeyer. »Möchten Sie mit ihr sprechen?« fragte der Augenarzt und streckte die Hand aus, um Cassis Schulter zu berühren.
Thomas hielt seinen Arm fest. »Nein, danke. Lassen Sie sie schlafen.«
»Ich wußte, daß sie heute nacht etwas unruhig war«, sagte Obermeyer zerknirscht. »Deshalb habe ich ihr noch ein zusätzliches Sedativum geben lassen. Mit so was hätte ich nie im Leben gerechnet.«
»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie völlig aufgelöst«, erklärte Thomas. »Einer ihrer Freunde ist gestern nacht gestorben, und das hat sie ziemlich mitgenommen. Ich habe es ihr verheimlichen wollen, aber eine ihrer Kolleginnen aus der Psychiatrie muß wohl so unvernünftig gewesen sein, es ihr zu erzählen.«
»Glauben Sie, es könnte sich um einen Selbstmordversuch gehandelt haben?« fragte Dr. Obermeyer.
»Keine Ahnung«, meinte Thomas. »Vielleicht war sie einfach durcheinander. Sie ist schließlich daran gewöhnt, sich zweimal am Tag ihr Insulin zu geben.«
»Was würden Sie davon halten, einen Psychiater hinzuzuziehen?«
»Sie sind der behandelnde Arzt. Ich bin in diesem Fall nicht objektiv. Allerdings würde ich noch warten. Hier scheint sie ja in Sicherheit zu sein.«
»Ich habe das rechte Auge von seinem Pflaster befreit«, sagte Obermeyer. »Ich fürchte, die Bandagen haben ihreAngst nur noch verstärkt. Glücklicherweise hat sich ihr linkes Auge nicht wieder eingetrübt. Wenn man bedenkt, daß sie gerade einen epileptischen Anfall hatte, was so ungefähr der härteste Test ist, dem man meine Operation aussetzen konnte, so brauchen wir uns über weitere Blutungen nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.«
»Und ihr Blutzucker?« fragte Thomas.
»Im Augenblick ziemlich normal, aber wir prüfen ihn immer wieder nach, um kein Risiko einzugehen.«
»Nun ja, sie ist schon früher manchmal etwas nachlässig gewesen«, sagte Thomas. »Sie hat immer versucht, ihr Leiden herunterzuspielen. Aber in diesem Fall scheint mir mehr als reine Sorglosigkeit im Spiel zu sein.«
Thomas dankte Dr. Obermeyer für die gute Arbeit und ging schleppenden Schritts aus der Intensivstation. Die Schwestern am Schalter blickten auf, als er an ihnen vorbeikam. Noch nie hatten sie Dr. Kingsley so deprimiert und besorgt gesehen.
12
Gegen fünf Uhr morgens wurde sich Cassi zum erstenmal ihrer neuen Umgebung bewußt. Sie konnte die große Wanduhr über der Tür zum Kontrollraum sehen und glaubte, im Genesungszimmer zu sein. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen, die sie aber auf die Operation zurückführte. Und in der Tat verspürte sie einen scharfen Schmerz im linken Auge, als sie von einer Seite auf die andere zu blicken versuchte. Sacht betastete sie die Bandage über dem Operationsfeld.
»Hallo, Frau Doktor!« sagte eine Stimme zu ihrer Linken. Langsam wandte sie den Kopf und blickte in das Gesicht einer lächelnden Schwester. »Willkommen daheim im Land der Lebenden. Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Verwirrt erwiderte Cassi das Lächeln. Sie starrte auf das Namensschild der Schwester. Miss Stevens, Medizinische Intensivstation. Das verwirrte sie noch mehr.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Miss Stevens.
»Hunger«, sagte Cassi.
»Vielleicht ist Ihr Blutzucker wieder gefallen. Er geht die ganze Zeit rauf und runter wie ein Jo-Jo.«
Cassi bewegte sich und fühlte einen leichten, brennenden Schmerz zwischen den Beinen. Offenbar war sie katheterisiert worden. »Hat es bei der Operation Probleme gegeben?« fragte sie.
»Nicht bei der Operation«, sagte Miss Stevens lächelnd. »In der Nacht danach. Soweit ich informiert bin, haben Sie sich selbst eine Extradosis Insulin zu Gemüte geführt.«
»Habe ich das?« fragte Cassi. »Was für ein Tag ist heute?«
»Freitag morgen. Kurz nach fünf.«
Irgendwie mußte sie einen ganzen Tag verloren haben. »Wo bin ich?« fragte Cassi. »Das ist doch nicht das Genesungszimmer.«
»Nein, Sie sind auf der Intensivstation. Können Sie sich denn an gar nichts mehr erinnern? Sie sind hier wegen Ihres
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