Grappa 07 - Killt Grappa
vernommen. Immerhin war ich die Einzige, die die Angaben der toten Loki Detema kannte.
»Viel bringt das leider nicht«, warnte mich Nik vor, »für die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung bist du eine sogenannte ›Zeugin vom Hörensagen‹. Das gilt vor Gericht nicht gerade viel.«
»Ich weiß.«
Auf Niks Schreibtisch lagen die Fotos der toten Loki Detema. Ein Auto war mit hoher Geschwindigkeit auf sie zugefahren und hatte sie voll erwischt. Sie muss sofort tot gewesen sein, wenigstens hatte sie nicht lange gelitten. Ihr Gesicht hatte noch im Tod einen erstaunten Ausdruck.
»Was ein Mensch wohl denkt, wenn er den tödlichen Schlag spürt?«, grübelte ich laut. »Ob er weiß, dass es die letzte Empfindung seines Lebens ist, bevor ihn das ewige Dunkel umhüllt? Rast das ganze Leben noch einmal an einem vorbei? Und sitzt da oben wirklich der gütige alte Mann mit weißem Bart und empfängt die Neuzugänge mit einem herzlichen ›Hey, Leute?‹«
»Hör auf mit diesem Gerede«, brauste Nik auf. »Warum sagst du das? Ist dir denn nichts heilig?«
Überrascht sah ich ihn an. Seine Augen waren mit Schmerz und Tränen gefüllt.
»Was hast du denn?« Ich war völlig entgeistert.
»Entschuldige.« Er hatte sich wieder gefangen. »Hier ist das Protokoll deiner Aussage. Unterschreibe es bitte.« Er war sehr förmlich, sehr fremd, und er konnte mich mal mit seinen Launen.
Brav setzte ich meine Unterschrift unter das Dokument. »Kann ich jetzt gehen?« Ich war schon auf dem Weg zur Tür.
»Nein, bleib!«, sagte er rau.
Nik kam auf mich zu und reichte mir ein Foto.
Ich betrachtete es. Die Aufnahme war älter. Zu sehen war eine junge Frau mit langem braunen Haar und ein großer blonder Mann, der ein offenes Lachen über gut gepflegten Zähnen zeigte. Die Frau legte ihre Hand auf die Schultern eines kleinen Jungen von etwa vier oder fünf Jahren. Die Geste hatte etwas Zärtlich-Behütendes.
»Meine Eltern«, sagte Nik leise. »Das Foto wurde kurz vor ihrem Tod gemacht, ungefähr Ende 1968. Da war ich sechs. Am 21. Januar 1969 gingen meine Eltern mit mir spazieren. Die Straße war nicht gefährlich oder verkehrsreich. Wir drei liefen auf dem Bürgersteig, als ein Auto in schneller Fahrt direkt auf uns zufuhr. Mein Vater versuchte noch, meine Mutter und mich zur Seite zu drängen. Ich hörte den Schrei meiner Mutter und spürte ihren Körper, mit dem sie mich schützte. Das Auto kam erst an der nächsten Hauswand zum Stillstand. Mein Vater und meine Mutter lagen vor mir, voller Blut, mit zerschmetterten Körpern. Ich bin mit leichten Prellungen davongekommen.«
»Wie schrecklich.« Ich schaute wieder auf das Foto. Es zeigte eine glückliche Familie. Ich wollte etwas Tröstendes sagen, doch mir fiel nichts ein. Sarkasmus lag mir bedeutend mehr.
»Deshalb bist du ins Waisenhaus gekommen?«, fragte ich.
»So ist es. Ich hatte keine Verwandten, die mich aufgenommen hätten. Kannst du dir vorstellen, was das für ein sechsjähriges Kind bedeutet? Aus der Geborgenheit der Familie in ein straff organisiertes Kinderheim? Ein Jahr lang habe ich kein Wort geredet. Danach war es der Wille zum Überleben, der mir geholfen hat.«
»Ist der Autofahrer verurteilt worden?«
»Es hat einen Prozess gegeben. Doch der Mann konnte vor Gericht beweisen, dass die Bremsen seines Autos versagt hatten. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag. Er ist wie in mein Gehirn gemeißelt. Nach dem Unfall stieg der Fahrer aus seinem Auto, sah, was er angerichtet hatte. Er roch nach Alkohol. Doch die Polizisten, die den Unfall aufnahmen, haben keinen Promillegehalt festgestellt. Er wurde freigesprochen.«
»Wie ist das möglich? Da bringt einer zwei Menschen um und kommt ungeschoren davon?«
Nik lachte bitter auf. »Alles ist möglich. Der Mann war ein Polizist, und seine Kollegen haben ihm geholfen. Sie müssen den Promilletest manipuliert haben. So brutal einfach ist das.«
In mein Gehirn kroch ein unglaublicher Verdacht.
»Das Waisenhaus wurde mein Zuhause«, erzählte er weiter. »Ich wurde nicht gequält, bekam genug zu essen und ging zur Schule. Ich war nicht unglücklich. Die Betreuer waren nett. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hat mich ein kinderloses Ehepaar adoptiert. Sie sorgten gut für mich. Irgendwann machte ich Abitur, ging zur Polizeischule, bekam meine erste Anstellung. Doch es verging kein Tag, an dem ich nicht den Schrei meiner Mutter gehört und die Wärme ihres Körpers gespürt hätte. Und das Gesicht des Autofahrers
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