Grappa 11 - Grappa und das große Rennen
war nicht von der Hand zu weisen, dass es sich um eine Szene aus dem Bürgerkrieg in Bosnien im Jahre 1992 handeln musste.
Ich presste die Schriftstücke an mich und rannte wieder in meine Wohnung. Mit zitternden Händen faltete ich die Papiere auseinander. Ich ahnte, dass Schreckliches auf mich wartete.
Bei dem ersten Artikel handelte es sich um ein Protokoll, das von der Gesellschaft für bedrohte Völker in der Zeitung Newsday im August 1992 veröffentlicht worden war. Es berichtete von einer Massenvergewaltigung von vierzig bosnischen Frauen und Mädchen durch serbische Truppenangehörige. Der Reporter hatte die Opfer, die überlebt hatten, interviewt und das Ergebnis seiner Recherchen zusammengefasst:
Vier junge Frauen sagten in Tuzla übereinstimmend aus, ihre serbischen Entführer hätten sie in einem Bordell festgehalten, wo drei oder mehr Männer sie über zehn Nächte hinweg jede Nacht vergewaltigten. Eine bosnische Frauengruppe schätzt, dass über 10.000 bosnische Frauen derzeit in serbischen Gefangenenlagern festgehalten werden, wo ihre Wächter sich ständig an ihnen vergehen. Die Täter schrecken auch nicht davor zurück, schwangeren und älteren Frauen Gewalt anzutun.
Eine Gynäkologin, die viele der Opfer untersucht hatte, wurde mit den Worten zitiert:
Die Frauen wurden nicht nur aus einem männlichen Instinkt heraus vergewaltigt. Es passierte ihnen, weil dies Kriegstaktik war. Mein Eindruck ist, dass es einen Befehl gab, Mädchen und Frauen das anzutun. Der Gesundheitszustand der Frauen, die mit dem Leben davongekommen sind, war sehr schlecht: Viele von ihnen hatten Vaginalinfektionen durch Staphylokokken und andere Bakterien, die sich in Dreck und Fäkalien entwickeln – von den seelischen Schäden ganz zu schweigen.
Mein Magen machte sich bemerkbar, die Beschreibungen ließen einen Schauer des Ekels über mich rinnen. Nichts ist grauenhafter als die Wirklichkeit, dachte ich.
Ich las weiter, blieb am letzten Absatz des Newsday -Artikels hängen:
Nachdem die Serben die Verwandten von Marja vor ihren Augen umgebracht hatten, entschlossen sie sich, die Frau nicht zu töten. Dies wurde von einem Arzt des Militärhospitals in Brezovo Polje befohlen, der wusste, dass die Frau Krankenschwester war. »Sie arbeitete jeden Tag für sie und jede Nacht wurde sie vergewaltigt. Von dem serbischen Arzt und auch von anderen Serben. Sie erzählte mir, dass der Arzt dabei immer zusah. Schließlich ist sie krank geworden. Sie war verwirrt. Sie sagte ihren Peinigern, dass sie im zweiten oder dritten Monat schwanger sei – doch das bedeutete ihnen nichts. Nun ist Marja verschwunden – ich habe sie nie wieder gesehen. Vermutlich ist sie umgebracht und irgendwo verscharrt worden – so wie viele Frauen, die in diesem Krankenhaus gearbeitet haben.«
Das Protokoll stammte von einer Frau, die in dem Militärhospital als Küchenhilfe gearbeitet und wenigstens überlebt hatte.
TOP und Teufel
Die Bürgerhalle des Rathauses war mit Menschen überfüllt – vor allem mit solchen, die den Niedergang der bisherigen Mehrheitspartei hautnah miterleben wollten. Gerry Smart war beim Frisör gewesen. Das Blondhaar glänzte hart, das graublaue Kostüm saß wie angeschweißt, die Stöckel waren höher als sonst. Sie stolzierte prächtig gelaunt inmitten ihrer jugendlichen Nahkampftruppe, winkte dem einen oder anderen huldvoll zu – in der Attitüde der künftigen Rathauschefin und Pöstchenverteilerin.
»Ekelhaft«, raunte ich TOP zu. »Sie tut so, als habe sie die Ernte schon eingefahren. Wo eigentlich ist Nagel? Warum zeigt er sich nicht?«
»Der hat sich in seinem Büro verkrochen«, klärte mich Piny auf. »Der ahnt wohl, was auf ihn zukommt. Der Maulesel ist doch nicht zum Galopper mutiert, liebe Grappa. Einmal Autist – immer Autist.«
»Abwarten«, riet ich. »Wenn der Bierstädter in sein Wahllokal geht und dann plötzlich mit Stimmzettel und Bleistift allein ist – dann kreuzt er das an, was er die letzten dreißig Jahre auch angekreuzt hat.«
»Diesmal nicht«, prophezeite TOP. »Die Veranstaltung heute ist eine Denkzettelwahl.«
»Mag sein«, räumte ich ein. »Aber kann die Alternative zu Nagel wirklich Gerlinde Smart heißen?«
»Das ist den Leuten egal. Smart hat Wahlgeschenke verteilt, T-Shirts, Tassen, Uhren, Sticker mit ihrem Konterfei – das kommt bei den Wählern an. Da konnte die SPD mit ihren Billigkugelschreibern und ihren dämlichen Papierfähnchen nicht mithalten. Außerdem hat Smart einen
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