Grappa 13 - Grappa und die acht Todsuenden
Schuld. Ich habe alles gewusst und es verschwiegen. Die Diözese befürchtete einen Skandal. Die Presse hatte schon Hinweise erhalten ... Doch wir konnten gerade noch verhindern, dass irgendetwas publik gemacht wurde.«
»Wir? Wer ist wir, zum Teufel? Was ist damals geschehen?«
»Das wissen Sie doch, Frau Grappa«, erwiderte der Geistliche mit klarer Stimme.
»Was?« Ich war verwirrt. »Was soll ich wissen?«
»Sie waren doch damals bei uns im Heim«, stellte er fest. »Vor etwa zwanzig Jahren. Ich habe Sie sofort wieder erkannt.«
»Moment!« Mein Atem ging schwer. »Ich soll schon mal in diesem Vincenz Heim gewesen sein?«
»Denken Sie nach«, forderte er mich auf. »Sie hatten sich unter einem Vorwand eingeschlichen. Und dann haben Sie versucht, die Kinder auszufragen. Herr Borchert hat Sie aus dem Heim geworfen – auf meine Anweisung. Erinnern Sie sich nicht?«
Langsam kam sie wieder, die Erinnerung. Sie füllte zögernd die Verästelungen in meinem Kopf, pustete den Müll von vielen Jahren Boulevardjournalismus hinaus und führte mich zu den nicht immer rühmlichen Anfängen meines Berufes.
Deshalb war mir das Schild am Heimgebäude so vertraut vorgekommen, deshalb hatte ich gewusst, wie Großmann aussah, bevor ich ihn gesehen hatte, deshalb lag über mir ein undurchsichtiger Schleier von unguten Gefühlen, seitdem ich in dieses Dorf gekommen war!
»Sie haben Recht«, sagte ich mit einem Krächzen in der Stimme.
»Na, sehen Sie«, meinte der alte Pfarrer, »jetzt ist die lange verschlossene Schublade in Ihrem Kopf aufgegangen.«
»Ich erinnere mich tatsächlich«, sagte ich leise. »Es ging um Übergriffe auf die Kinder. Es gab Gerüchte. Über Züchtigungen und sexuelle Belästigungen. Aber alle Recherchen sind im Sande verlaufen. Ich habe also nie etwas darüber geschrieben. Wie aber konnte ich das alles vergessen?«
Versprechen – gebrochen
Maria Grappa – damals: Mitte zwanzig, nachdenklich, störrisch, fordernd und ziemlich skrupellos.
Die feministischen Gruppen hatte ich mit Grausen hinter mir gelassen: zu eng, rigide, intolerant.
Die katholische Kirche und ihre Dogmen lehnte ich ab: zu eng, rigide, intolerant.
Und der Kommunismus war auch nicht meine Sache: zu eng, rigide, intolerant.
Aber der Journalismus wurde meine Passion: durch Informationen aufklären, durch Fakten Gefühle auslösen, durch Schreiben die Ungerechtigkeiten der Welt abmildern, die Mächtigen kontrollieren, den Geschundenen helfen und selbst noch ein bisschen Spaß dabei haben, weil es auch in mir Machtgefühle gab, die ich ausleben wollte.
Ich musste wohl etwa ein Jahr nach dem Feuer in der Bierstädter Villa im Vincenz Heim recherchiert haben – für die Reportageseite. Wer den Hinweis auf Unregelmäßigkeiten im Heim gegeben hatte, wusste ich nicht mehr. Der Ressortleiter hatte mich jedenfalls mit der Geschichte beauftragt.
Ich tarnte mich als Verwandte eines Kindes, dessen Namen mir jemand genannt hatte, und kam so unbeachtet ins Heim. Eine kleine Kamera lag griffbereit in meiner Handtasche.
Da waren einige Kinder herumgelaufen; ich hatte sie angesprochen, doch sie konnten oder wollten mir nichts sagen. Bis auf ein kleines Mädchen von etwa neun oder zehn Jahren. Das Kind hatte allein auf einer kleinen Mauer vor einem Teich gesessen und vor sich hin gesungen.
Jetzt hatte ich das Bild wieder vor mir: Ich fragte das Kind nach dem Lied, die Kleine sang es für mich, sie trällerte die Melodie wie eine Maschine, immer und immer wieder, atmete an den gleichen Stellen, brach mitten in der Melodie ab, um dann wieder von neuem zu beginnen – wie eine Schallplatte, deren Rillen beschädigt waren.
Ich hatte sie gebeten aufzuhören, damit ich ihr Fragen stellen konnte. Ihre Augen waren blau wie ein Kornblumenstrauß gewesen, umrahmt von langen Wimpern, die Lippen rosig und ein bisschen aufgeworfen, das Haar goldblond und unfachmännisch grob geschnitten. Sie hatte meine Fragen nicht verstanden, aber die Haltung des merkwürdigen kleinen Wesens strahlte Furcht aus.
Dann bemerkte ich, dass sie eines der mageren Ärmchen, das aus dem dunkelblauen schäbigen Kleid ragte, merkwürdig hielt. Ich fragte danach und sie schob den Ärmel nach oben. Ein großes Hämatom zog sich vom Ellenbogen bis zur Schulter.
»Wer hat dir das angetan?«, hatte ich erschrocken gefragt.
Das sei der Hausmeister gewesen, erklärte die Kleine, weil sie ungehorsam gewesen sei.
»Macht er das oft?« , hatte ich wissen wollen.
Sie verschloss
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