Grave Mercy Die Novizin des Todes
Tat, der Mann kann schon seit Tagen ein Mal tragen – an einer Stelle, wo ich es nicht sehen kann.
Ich schaue mich in dem dunklen Flur um und versuche, mich im Ostflügel der Burg, der d ’ Albret zugewiesen wurde, zu orientieren. Zwei Türen stehen weit offen. Erhobene Stimmen und Gelächter dringen neben Kerzenlicht in den Flur hinaus. Das Gelächter hat einen unangenehmen Unterton, eine schwache Färbung von Grausamkeit, bei der mein Herz schneller schlägt und meine Hände sich danach sehnen, nach einem Messer an meinem Handgelenk oder Knöchel zu greifen. Stattdessen zwinge ich mich, nach dem schweren Samt meines Gewandes zu langen.
Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich mich herauswinden werde, sollte d ’ Albret kein Todesmal tragen, aber ein zufriedenstellender Plan muss mir erst noch einfallen. Ich würde gern glauben, dass ich mich in diesem Fall einfach umdrehen und gehen kann, aber ich fürchte, so einfach wird es nicht sein. Die Jungen im Dorfhatten hässliche Namen und Spott für Mädchen, die Küsse versprachen, sie aber niemals gaben. Trotzdem hole ich tief Luft und schlüpfe lautlos in den Raum.
Die Halle ist voller Adliger und ihrer Gefolgsleute, und die Hälfte der Adligen lümmelt in Sesseln herum und trinkt Wein. D ’ Albret sitzt in der Mitte, und sein ganzes Auftreten verströmt Arroganz, angefangen von der Art, wie er sich in seinem Sessel räkelt, bis hin zu dem geringschätzigen Blick, mit dem er sich im Raum umschaut.
Während Erwartung mich durchflutet, überschlagen sich meine Gedanken. Ich weiß, ich kann nicht einfach zu ihm gehen und ihn bitten, sein Wams aufzuschnüren, damit ich seine Brust betrachten kann. Einmal mehr verfluche ich mein unbeholfenes, jeglicher Verführungskunst entbehrendes Wesen. Sybella und selbst Annith würden wissen, was zu tun ist.
Und dann fällt es mir ein. Ich muss nur so tun, als sei ich Sybella.
Sie würde einen Vorwand finden, um sich ihrer Beute zu nähern, dann würde sie ihr zartes Netz der Verführung um ihr Opfer spinnen. Ich betrachte den Raum und erspähe erfreut eine halb volle Flasche Wein auf einer der Truhen. Ich greife danach und gehe zu d ’ Albret hinüber.
Schon ein wenig selbstsicherer schlüpfe ich um die Traube von Männern herum, sodass ich mich d ’ Albret von hinten nähern kann. Die Tatsache, dass er und seine Männer nur auf ihre eigene prachtvolle Erscheinung bedacht sind, macht es leichter, als es sein sollte. Ich hole tief Luft und erinnere mich an Sybellas kehliges Lachen, an die Art, wie sie zierlich die Lippen zusammenzieht, sodass man nicht sicher sein kann, über wen sie lacht; außerdem rufe ich mir ins Gedächtnis, wie sie den Kopf schräglegt und die Augen zusammenkneift, wenn sie einen betrachtet und versucht zu entscheiden, ob man ihrer Mühe wert ist.
Als ich näher komme, schaut der Mann zu d ’ Albrets Linken auf; ich bin entdeckt und kann nicht länger trödeln. Ich lasse die Hand sinken; meine Finger brennen darauf zurückzuzucken, aber ich zwinge mich, sie leicht auf d ’ Albrets Schulter zu legen. Er riecht nach Wein, Schweiß und dem geschmorten Wildbret, das er zu Abend gegessen hat. Ich verziehe die Lippen zu einem wissenden Lächeln und senke die Stimme. »Gnädiger Herr«, schnurre ich. »Darf ich Euren Weinbecher wieder auffüllen?«
Er hebt den Kopf und schafft es irgendwie, dass es wirkt, als blicke er auf mich herab, obwohl ich über ihm stehe. Er hält seinen Kelch hoch, und seine Augen werden schmal, als er mich erkennt. »Ah, wen haben wir denn da?«
Während ich ihm seinen Wein einschenke – langsam –, inspiziere ich jeden Zoll entblößten Fleisches auf der Suche nach dem leisesten Hinweis auf Mortains dunklen Schatten. Da ist nichts. Merde. Das bedeutet, dass ich dies hier noch weitertreiben muss. Als sein Kelch voll ist, presse ich die Flasche an die Brust und schlage die Augen nieder. »Es ist genauso, wie Ihr gesagt habt, gnädiger Herr. Ich fürchte, ich werde weit häufiger alleingelassen, als mir lieb ist.« Ich schaue rechtzeitig unter den Wimpern hervor, um zu sehen, wie er seine dicken Lippen zu einem zynischen Lächeln verzieht. Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ich senke den Blick wieder, damit er nicht sieht, wie sehr ich mir wünsche, ihm dieses Lächeln vom Gesicht zu schlagen.
»Lasst uns allein«, befiehlt er den anderen abrupt. Es folgt ein Moment überraschten Schweigens, dann verlassen die anderen Männer mit wissendem Augenzwinkern und ein oder
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