Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
damaligen Mauer ansiedelten – im Stadtgraben. Gleich dahinter kam auf ein paar hundert Schritt Länge eine zweite Mauer, und das schmale Band zwischen der Stadtmauer und der neuen Mauer hieß fortan die Judengasse.
Und da wohnten sie noch heute. Nur lag der ummauerte, mit hohen Toren gesicherte Stadtgrabenabschnitt jetzt nicht mehr draußen, sondern mittendrin in dem längst über die alte Staufenmauer hinausgewachsenen Frankfurt. Auch die Judengasse war inzwischen gewachsen. Allerdings nur die Zahl der Bewohner und nicht die Fläche. Denn die Fläche war ja begrenzt. Da waren ja die Mauern drumherum und wurden auch bis heute hübsch in Schuss gehalten, weshalb es verteufelt eng geworden war in dem vorher schon engen Wollgraben. So konnten sich die christlichen Besucher schön gruseln und über die Zustände erregen. Besonders, wenn man als junger Frankfurter aus gutem Hause, der Trödelware nicht nötig hatte, dennoch ausnahmsweise mal in die Judengasse spazierte, so als Mutprobe vielleicht (denn der schlechte Ruf beziehungsweise Geruch des Ortes war ja bekannt)− dann konnte man nicht umhin, alles zu glauben, was man je Schlechtes über Juden gehört hatte, und sehr zufrieden damit sein, dass dieses unangenehme fremde Völkchen mit seinem Gewimmel und Gewusel und Gemauschel und Geschacher hier schön abgeschlossen gehalten wurde und nicht etwa die Erlaubnis bekam, einfach irgendwo anders in der Stadt sich niederzulassen. Solche Leute wollte man nicht als Nachbarn.
Das wiederum sahen die Juden etwas anders. Der Bonum zum Beispiel, nicht einmal ein eingesessener Stättigkeitsjude, sondern nur ein geduldeter Fremder, der hier nicht mehr besaß als ein halbes Bett zur Miete. Was ihm an der Frankfurter Judengasse im Vergleich mit seiner Odenwälder Heimat richtig gut gefiel, das war die Tatsache, dass man hier so schön unter sich war. Von überall kam die im Elternhaus gelernte anheimelnde Sprache, und man musste sich nicht dauernd den Mund verrenken, um von nichtjüdischen Nachbarn verstanden zu werden. (Zumal sich der Bonum, um ehrlich zu sein, an den Frankfurter Dialekt nie so ganz hatte gewöhnen können und sich weigerte, ihn zu sprechen. Er pflegte mit den Christen ein Oberdeutsch mit Odenwälder und ein bisschen jüdischer Färbung zu reden.) Alles, was man so brauchte, wie koscheres Fleisch, koscheren Wein oder die Synagoge, gab es hier nur einen Steinwurf entfernt. Um seine Dienste anzubieten – denn der Bonum war ja bekanntlich Mietknecht – hatte er es ebenfalls nie weit. Zwar lag das Einhorn , wo er fast jeden Tag Kundschaft hatte und am Wochenende schon mal übernachtete, außerhalb der Judengasse. Aber so dicht dran auf der anderen Seite der Mauer, dass er sozusagen von seinem halben Bett aus rüberspucken konnte.
Eben war er gerade wieder auf dem Weg ins Einhorn , fädelte sich zwischen den Trödlern und Pfandleihern und ihrer Kundschaft hindurch − wen erblickt er da vor dem Geschäft vom Kurzwarenhändler Flörsheim? Die Susann.
Nichts Besonderes natürlich. In die Judengasse kommt man eben, wenn einem etwas fehlt an Nähzeug oder Hausrat oder Kleidern. Es sei denn, man hätte Lust, woanders doppelt so viel zu zahlen. Und das wird die Susann wohl kaum haben. Aber Herr der Welt, wenn man sie so von weitem sieht, da kann man wirklich gar keinen Zweifel mehr haben, dass das Mädchen schwanger ist.
Er tippt ihr von hinten an den Rücken im Gedränge, worauf sie sich mit einem Ruck umdreht. «Ach, nur Ihr!», sagt sie, eine erschrockene Hand auf dem Herzen, und lacht ein bisschen traurig. Er wünscht einen guten Morgen und guten Einkauf und geht gleich weiter.
Ganz unangenehm ist ihm plötzlich wieder zumute wegen der Susann; es lässt sich gar nicht beschreiben, das Gefühl, das ihm in den Eingeweiden umhergeht. Was musste sie auch unbedingt mit dem Holländer rumhuren und ihn, der völlig unschuldig ist, sozusagen mit hineinziehen in die Sache. Was auch immer ihr passiert ist und noch passieren wird, sie hat es verdient. Wenn nur er nicht noch einen Schaden davonträgt.
Aber was ist − war das nicht −
Der Bonum bleibt etwas baff kurz vor dem Tor am Judenbrücklein im Gewühl stehen. Wen hat er da eben mit halbem Auge vollbepackt das Haus Zum goldenen Anker betreten sehen? War das nicht dieser Jontef, der Gefährte von dem Holländer?
Den Bonum reißt es hin, und dann reißt es ihn her und schließlich erst einmal hinaus aus der Judengasse, weil ihn nämlich ganz laut im Einhorn die
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