Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
Morgenstunden hinein aufblieb und trank. Steinchen gegen das Fenster zu werfen hätte keinen Zweck.
Aber er mußte Millie sehen.
Alex machte die Augen auf und sah in die Ecke. Hexer war weg.
Melrose bemühte sich, sein Entsetzen über Francis Fellowes’ unerwartete Enthüllungen nicht zu deutlich zu zeigen. Er vergaß für einen Augenblick seine Rolle und bot dem Maler eine Zigarette aus dem echt silbernen Etui an. »Was in drei Teufels Namen wollen Sie damit sagen? Es klingt, als gingen Sie davon aus, daß jemand versucht, ein Familienmitglied nach dem anderen um die Ecke zu bringen.«
»Würde mich nicht im geringsten überraschen. Schönes Stück«, sagte Fellowes und blickte von dem Etui zu Melrose, dem armen arbeitslosen Bibliothekar.
Melrose ließ es zuschnappen und steckte es schnell wieder in die Tasche. »Von meiner Tante. Sie hat ein bißchen Geld, aber ich stehe nicht besonders hoch in ihrer Gunst.« In Wirklichkeit konnte er die »Tante« immer knapp davon abhalten, es mitgehen zu lassen. »Auch so eine entfernte verrückte Verwandte.«
»Wie Adam, meinen Sie?« fragte Fellowes. »Na ja, ich neige eher zu der Annahme, daß sie alle wünschten, er wäre verrückt.«
»Aber die Köchin, ich meine, die, die Selbstmord begangen hat - sie gehörte doch nicht zur Familie.«
»Nein. Aber Adam war ihr sehr zugetan. Graham auch. Obwohl er wirklich nicht viel zustande gebracht hat. Er war ein netter Junge, ja, obwohl er fünfunddreißig war, habe ich ihn immer nur als >Jungen< gesehen. Und schließlich war er das einzige Enkelkind. Seine beiden eigenen Söhne sind Adam, glaube ich, herzlich einerlei. Crabbe und George kann man aus den verschiedensten Gründen nicht ernst nehmen. Und dann Genevieve. Hm, Genevieve ... Natürlich wird Adam ihnen etwas hinterlassen, genauso wie er vermutlich mir genug für Farben und Pinsel hinterlassen wird. Aber diejenigen, die er wirklich gern hat, die werden den Löwenanteil kriegen. Jane hätte viel bekommen. Jane mochte er wirklich sehr. Mit den Jahren fallen offenbar alle, die er mag, tot um.« Fellowes machte eine Pause. »Wie, sagten Sie, haben Sie Madeline kennengelernt?«
Jetzt hatte er sich ein bißchen zu sehr um Beiläufigkeit bemüht, fand Melrose. Ob Francis Fellowes wohl auch nur einen Moment glaubte, er sei wirklich ein einfacher Bibliothekar? Ganz bestimmt ein einfältiger , dachte er ärgerlich. »Ich kenne sie im Grunde gar nicht. Sie war zufällig in London und schaute sich Bewerber für die Bibliothekarsstelle an.« Sollte Fellowes doch denken, er sei einer von denen; wobei er nur hoffen konnte, daß Fellowes nicht interessiert genug war, um bei Madeline nachzufragen. Vielleicht sollte er ihm etwas gestehen, in der Hoffnung, sein neuer Freund werde es für sich behalten. Aber was? Daß er mit den geliebten Lake-Dichtern nichts am Hut hatte. Ja, das war’s. »Passen Sie auf, lassen Sie es Crabbe Holdsworth nicht zu Ohren kommen, aber mal Hand aufs Herz, Wordsworth hat Coleridge doch ausgebeutet ... wenigstens glaube ich das. Die famose Freundschaft hat ja vielleicht ganz nett begonnen, aber sie endete sicher damit, daß Wam - ich meine, William - den armen Sam nach Strich und Faden verarscht hat. Hm, das ist vielleicht ein bißchen drastisch formuliert. Aber Sam war verständlicherweise niedergeschlagen, weil >Christabel< nie in die Lyrischen Balladen aufgenommen wurde ... und Sie wissen ja sicher, wer das Zeug herausgegeben hat! Also bezog Coleridge wegen des ganzen übernatürlichen Zeugs in seinen Gedichten Schelte, obwohl das der Grund war, warum ihn Wordsworth zunächst angeblich mit dabei haben wollte. Da hätte Coleridge genausogut Bücher katalogisieren können, für den Dank, den er geerntet hat!« Melrose ereiferte sich gehörig und zerquetschte seine Zigarette in dem Blechaschenbecher. »Aber mit irgendwas muß ein Mann ja schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen.«
Fellowes lachte. »Sie sind aber einer der wenigen Menschen im Hause, die arbeiten, um das zu tun. Und obendrein scheinen Sie ja auch durchaus eine Kapazität zu sein.«
Nur ein schneller Leser, dachte Melrose. »Sie glauben doch nicht allen Ernstes, daß der ganze Stuß in den Lyrischen Balladen stimmt?«
Fellowes runzelte die Stirn. »Was stimmt nicht?«
»Die Übereinstimmung der Absicht. Das Gelaber über das Mystische, das sich angeblich im Alltäglichen verbirgt. Wordsworth konnte schlicht und ergreifend nicht mit Schlangen und Albatrossen umgehen, das ist alles.
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