Großer-Tiger und Christian
nicht müßig. »Dieses Dorf«, erklärte er, »ist voll mit Dieben und Spitzbuben. Nehmt euch in Acht.
Andern Leuten verengen sich die Augenbrauen vor Angst, doch ich blicke furchtlos in den dunklen Rachen der Nacht.«
»Der Hund bewacht uns«, trösteten Großer-Tiger und Christian.
»Inschallah«, sagte Kao-Scheng weise.
Allein in Tschiku-Tsching dachte niemand daran, den nächtlichen Frieden zu stören. Als der Morgenruf des Mullah ertönte, stand
Glück auf; doch erst nach Mittag erreichten sie die Passhöhe bei Ta-Schi-Tu, die über die Barkul-Berge führte. Von da an ging
es bergab, und am Abend langten sie eine Stunde vor Torschluss in Kutschen-Se an. Es war schon spät, als Christian das Tagebuch
aus der Tasche langte. Er schrieb:
»Heute ist der vierzehnte Tag des dritten Monds. Er scheint in den Hof, wo unser Wagen neben einem andern steht, der dem Gouverneur
gehört. So hat er Gesellschaft gekriegt. In unserm Zimmer gibt es eine Petroleumlampe und viele gute Sachen zu essen. Auch
ein Eilbrief des Marschalls mit vielen Grüßen lag dabei. Er freut sich, dass er uns bald sehen wird, weil wir nun schon alte
Bekannte sind.
Mit den alten Bekannten ist es so, dass man sie trifft, wenn man an nichts Böses denkt. Wir fuhren von Tschiku-Tsching fort,
und ich studierte das Westliche-Blatt. Man brauchte es aber nicht studieren, sondern man merkte auch so, dass es bergauf ging.
Die Berge waren hoch, und obendrauf lag Schnee. Trotzdem kochte das Wasser im Kühler, und wir mussten aussteigen und Kao-Scheng
auch, obwohl er lieber sitzen geblieben wäre. Glück sagte, wenn er nicht an alles denkt, denkt niemand daran. Damit meinte
er eine Kanne mit kaltem Wasser, die er mitgenommen hatte. Wir mussten die Bremsklötze hinterdreintragen, und ich freute mich
schon, was Kao-Scheng für ein Gesicht macht, wenn der Wagen stehenbleibt. Der Motor lief aber wieder ein Stück und dann noch
eins, und so kamen wir nach Ta-Schi-Tu, das wie Tschiku-Tsching aussieht, nur dass es keine Telegrafenstangen mehr gibt. Die
Linie geht nämlich über Turfan, und so braucht Kao-Scheng nicht mehr schwindligwerden. In Ta-Schi-Tu wollte Glück nicht bleiben, nicht einmal zu einem Tee. Schließlich blieb er doch, weil Kao-Scheng behauptete,
sein Magen käme sonst in Unordnung, und es passiere was.
Indem wir es eilig hatten, blieben wir vor der Teestube mitten auf der Straße sitzen, und wir schauten einem Reiter zu, der
auf einem Pferd von Barkul her kam. Er sah mager und abgetrieben aus. Wenn man alte Bekannte trifft, soll man höflich sein,
und nicht: ›Du Lumpenkerl‹ und ›Du Hundesohn‹ schreien, wie Glück das machte. Er langte zwar bloß nach dem Daschior und nicht
nach der Pistole, aber Kao-Scheng hängte sich an seinen Arm und schrie: ›Warum willst du den ehrenwerten Herrn verprügeln?
O Unglück! O Missverständnis!‹ Gleich war ein Haufen Leute da, und sie sagten: ›Es muss ein Irrtum vorliegen.‹ Großer-Tiger
und ich gingen miteinander zu dem Herrn, und als wir ihn artig grüßten, war er sehr froh, dass er nicht verprügelt, sondern
begrüßt wurde. Es war nämlich Herr Ma, und er sah ganz erschöpft aus, und sein Pferd zitterte auch. Glück war immer noch wütend,
aber wir sagten, dass wir Herrn Ma besser kennen als vorher, dass er kein Geizkragen ist, und wenn er seine Kamele bei sich
hätte, würde er uns aus lauter Freundschaft ein herrliches Geschenk machen. ›Wo hast du sie?‹ fragte Glück streng, und Ma
sagte, er habe die Karawane schon lange verlassen. Gleich als sie die furchtbaren Pässe des Emir-Tag hinter sich hatten, sei
er vorausgeritten, Tag und Nacht, und er habe entsetzlich viel Geld für Futter ausgegeben, aber es nützt nichts, und sein
Pferd ist halbtot. Glück sagte: ›Du bist eben ein pflichtvergessener Mensch‹ und Ma weinte ein bisschen und sagte, er sei
ruiniert. Da luden wir ihn zum Teetrinken ein, und Großer-Tiger machte den Reisesack auf. Als Ma die vielen guten Sachen des
Königs Ching-Wang-Ye-Schah-Maksut sah, wurde ihm besser. ›Weshalb bist du vorausgeritten?‹ fragte Glück, und Ma sagte: ›Weil
ich einen pressanten Blitzbrief in Tschiku-Tsching aufgeben muss.‹ ›Da kommen wir her‹, sagte Glück, ›nimm ein frisches Pferd,
aber vor morgen Abend bist du nicht dort.‹ Ma seufzte und rief: ›Es gibt keine Hilfe!‹ Da sagte Großer-Tiger langsam: ›Wenn
der verehrte Herr Ma dem gewissenHerrn Li-Yüan-Pei
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