Gruenkohl und Curry
etwa fünftausend Mark, doch noch. Da hatte er seine Ausbildung in Grünendeich längst abgeschlossen und seine Familie mit Mühe ernährt.
Zwei Wohnungsanbieter riefen an und verabredeten sich mit meinen Eltern Anfang Januar. Meine Eltern mieteten ein Auto, packten die Koffer und den Kinderwagen ein und machten sich auf den Weg Richtung Norden. Ingnot kam mit, er musste ohnehin wieder nach Bremen, Stade lag da fast auf dem Weg. Ingrid wäre auch gerne mitgefahren, aber mit dem ganzen Gepäck im Wagen war kaum mehr Platz. So blieb sie mit ihren zwei Töchtern in Mannheim. Vor allem für meine Mutter war es der zweite tränenreiche Abschied von neu gewonnenen Freunden, die zur Ersatzfamilie geworden waren. Wir machten uns auf einen siebenhundert Kilometer langen Weg in einen Ort, der unsere neue Heimat werden sollte.
Angekommen in der Fremde
Es begann schon dunkel zu werden, als Ingnot und meine Eltern in Stade ankamen: ein Städtchen mit kleinem Hafen, knapp tausend Jahre alt, Fachwerkhäuser, viel Kopfsteinpflaster, schon von Weitem fielen die zwei Kirchtürme ins Auge. In manchen Fenstern hing noch die Weihnachtsbeleuchtung.
Für einen Stadtrundgang war keine Zeit, außerdem hatte niemand Lust dazu. Die gut siebenstündige Fahrt war anstrengend gewesen, ich hatte fast ununterbrochen geschrien.
So fuhren sie direkt zum ersten Besichtigungstermin: eine Wohnung in einem Betonblock in der Nähe des Krankenhauses, nur wenige hundert Meter von der Innenstadt entfernt. »Man betrat sie durch die Küche und in einer Ecke war die Dusche«, erinnert sich meine Mutter und man merkt ihr eine gewisse Erschütterung an. Nach einem hastigen Blick in alle Zimmer verabschiedeten sie sich von dem Wohnungseigentümer, einem alten, mürrischen Mann.
»Wo wolltet ihr eigentlich nach den Besichtigungsterminen übernachten?«, frage ich meine Eltern.
»In einer der Wohnungen.«
»In welcher Wohnung?«
»Na, in einer von denen, die wir uns angeschaut haben.«
»Aber das waren doch nur zwei.«
»Ja, und?«
»Und was, wenn euch keine gefallen hätte? Oder wenn der Vermieter gesagt hätte, dass ihr erst später einziehen könnt?«
»Aber es hat doch geklappt.«
Eine der zwei Wohnungen musste,
Inschallah
, passen, und zwar so, dass die Familie sofort einziehen konnte – andernfalls hätten sich meine Eltern ein Hotel oder eine Pension suchen müssen, was sie sich für eine längere Zeit kaum leisten konnten. Und die erste Wohnung war schon ein Reinfall.
Ich glaube, heute würden meine Eltern wohl nicht mehr so handeln: einfach auf das Schicksal vertrauend, ohne Vorkehrungen getroffen zu haben.
Ich frage sie: »Würdet ihr das heute wieder so machen?«
»Bist du verrückt? Wo hätten wir denn die kommenden Tage übernachten sollen, wenn wir keine Wohnung bekommen hätten?«
Die zweite Wohnung lag auf halber Strecke zwischen Stade und Grünendeich, im Dorf Hollern-Twielenfleth.
Eigentlich sind es zwei Dörfer – Hollern, das etwas landeinwärts liegt, und Twielenfleth direkt an der Elbe –, die zusammen eine Gemeinde bilden. Twielenfleth wurde erstmals im Jahr 1059 urkundlich erwähnt, Hollern 1143. Einer Dorfchronik zufolge waren die ersten Siedler sächsische Bauern, die
»zu Schiff ankamen«.
Noch heute leben viele von der Landwirtschaft – die Region, das Alte Land, ist mit seinen Millionen von Bäumen auf etwa zehntausend Hektar Land eines der größten Obstanbaugebiete Europas.
»Im Kampf mit den Naturgewalten, mit Krieg, Feuer und Wassersnot nahm sie
[gemeint ist die Entwicklung des Dorfes]
ihren Fortgang und prägte einen Menschenschlag eigener Art, der sich unter unvorstellbaren Mühen und Opfern an Leben und Gut durch die Zeiten fortpflanzte bis auf den heutigen Tag: kernig und fest, eigen und stolz«,
heißt es in dem Vorwort einer Festschrift zum neunhundertjährigen Bestehen von Twielenfleth. Zuletzt waren es immer wieder die Wassermassen der Elbe, die das Land überschwemmten und, als die Deiche standen, diese Schutzwälle auflösten wie Kekse, die man in Kaffee tunkt.
Die Wohnung befand sich in Hollern, in der Hollernstraße. Die Autofahrt dorthin dauerte von Stade aus zehn Minuten. Meine Mutter war begeistert: überall am Straßenrand schöne alte, reetgedeckte Bauernhäuser, viel Fachwerk. Dazwischen die Weiten der Obsthöfe, überwiegend Kirsch- und Apfelbäume in langen Reihen, hier und da Zwetschgen- und Birnbäume, durch die man in dieser blattlosen Zeit kilometerweit bis zum Deich in Twielenfleth
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