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Guillou, Jan - Coq Rouge 05 - Der ehrenwerte Mörder

Guillou, Jan - Coq Rouge 05 - Der ehrenwerte Mörder

Titel: Guillou, Jan - Coq Rouge 05 - Der ehrenwerte Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Silber.
    »Ich hatte mir Rasieren, Schneiden und Waschen gedacht. Du siehst die Reste eines Scheitels. Ich möchte wieder einen Scheitel haben. Das Haar soll nicht über die Ohren reichen. Ich will aussehen wie ein Botschaftssekretär oder Direktionsassistent beim Arbeitgeberverband. Etwas in der Richtung.«
    Sein Wunsch erregte ein gewisses Interesse, und der Ephebe änderte seine Haltung.
    »Bist du Schauspieler oder so was?« fragte er. Der Ton überlegener Verachtung war verschwunden.
    »Ja, das könnte man sagen. Ich soll in meiner nächsten Rolle einen Gentleman und Offizier spielen. Meine jetzige ist beendet«, erwiderte Carl und lehnte sich demonstrativ zurück, um anzudeuten, daß die Konversation beendet war. Der Ephebe zuckte die Achseln und begann mit der Arbeit.
    Carl schloß anfänglich die Augen. Ihn störten das starke Licht und auch sein Spiegelbild. Als Maskerade war sein Aussehen ein Erfolg, das hatte sich immerhin gezeigt. Aber es war, als hätte er sich seelisch verändert, um in die Rolle des heruntergekommenen Kerls zu schlüpfen. In dem juckenden Bart blühten ein paar mit Schmutz gedüngte Pickel. Er sah käsig und müde aus, vielleicht auch etwas unglücklich vor Kummer, und fühlte sich auch so, wie er aussah.
    Es begann mit der Rasur. Er wurde nach hinten geklappt, so daß sein Blickfeld oben an der weißen Decke landete. Als er Anfang zwanzig gewesen war, hatte er immer Angstphantasien von gerade dieser Position gehabt, nach hinten geklappt und mit den Armen unter einem weißen Umhang, wie er mit entblößtem Hals vor einem großen, grobknochigen Mann von italienischem Aussehen saß, der ein riesiges Rasiermesser in der Hand hatte. Es war vielleicht etwas, was er in einer Sonntagsvorstellung im Kino gesehen hatte, vielleicht irgendein Gangsterfilm über einen Mafiakrieg. Vielleicht war es auch ein Musical mit dem Titel »Sweeney Todd« gewesen, in dem es um den Friseur Sweeney ging, der seine Kunden ermordete und zerstückelte. Das Fleisch gab er seiner Frau, die daraus die beliebtesten Fleisch- Pies des East End machte, billig und nahrhaft.
    Carl fehlte jedoch die Furcht. Diese Entdeckung machte er jetzt mit pulsierender Unruhe. Anfang zwanzig war er noch weit lebendiger gewesen. Damals hatte er von Zeit zu Zeit Alpträume gehabt, er könnte dieses Lebendige in sich verlieren.
    Wenn er jetzt Alpträume hatte, ging es darin um das genaue Gegenteil, zumindest erschien es ihm so. Er überlebte, aber andere Menschen starben, weil er selbst tötete. Es war, als hätte sich in den letzten Jahren eine Art Gleichgültigkeit seiner bemächtigt, die sich so behutsam und so allmählich weiterentwickelte, daß er die fortlaufende Veränderung nicht bemerkt hatte. Aber daß er jetzt keine Furcht spürte, hatte nichts mit Mut zu tun, dem Mut, den er sich Anfang zwanzig gewünscht hatte. Es hatte etwas mit Gleichgültigkeit zu tun, als hätte er sein Leben schon hinter sich, als wären alle Rechnungen beglichen und alle Fehler gemacht, als bliebe auf dem Weg zum Ende nichts als Überdruß. Etwas war vollkommen danebengegangen. Es war absurd, daß er sich selbst bemitleidete. Den Meinungsumfragen zufolge war er der am meisten bewunderte Mann des Landes, weit vor dem Chef des größten Automobilunternehmens und dem Finanzminister. Time Magazine hatte ihn im letzten Jahr zum »Mann des Jahres« gemacht. Er war für den Rest seines Lebens von finanziellen Problemen befreit, und seine Frau oder die Frau, die er liebte, würde in drei Monaten einen Sohn oder eine Tochter zur Welt bringen. Er war der Jüngste, dem je eine so wichtige Position beim Nachrichtendienst anvertraut worden war, wie er sie jetzt bekleidete. Er hatte also einen Job, der für die ganze Nation wichtig war, er war unleugbar ein gottverdammter Erfolg, außer möglicherweise als Liebhaber. Und das war jedenfalls nichts, was ihn jetzt noch quälte; ihr Sexleben war jetzt ohnehin vorsichtig, da sie einen so dicken Bauch hatte.
    Selbstmitleid war absurd, aber trotzdem war etwas grundlegend falsch. Ich bin ganz einfach unglücklich, dachte er. Warum sollte ich es nicht so einfach und altmodisch ausdrücken?
    Doch damit stellte sich die Frage, warum. Hatte er ein schlechtes Gewissen gegenüber Menschen verdrängt, denen er geschadet oder die er so effektiv getötet hatte, daß er nur noch Phantomschmerzen in sich spürte, Schmerzen, die sich nicht mehr auf eine konkrete Wunde zurückführen ließen?
    Oder war es dieser junge Clartéist, der ihm

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