Haertetest
vor Schreck zurück, was Leonies Mutter sofort ausnutzte, um sich an mir vorbeizudrängeln. Ihr rhetorisches »Darf ich bitte auch mal gucken?« war blanker Hohn, weil sie mir gleichzeitig ihren Ellbogen in die Seite rammte und sich vor mich schob. Trotzdem blieb ich stehen, wo ich war, und verrenkte mir fast den Hals, um Maja nicht aus den Augen zu verlieren. Da war sie! Ich konnte sie sehen! Ihre grüne Schwimmbrille leuchtete kilometerweit. Oh, und sie überraschte mich!
Während die meisten Kinder sich nach ihrem Sprung erst einmal orientieren mussten und sich dazu mehrfach im Kreis drehten – Moment, wo ist oben, wo ist unten, wo komm ich her, wo muss ich hin? –, fing sich Maja als eine der Ersten wieder, erblickte ihr Ziel und steuerte schnurstracks darauf zu. Sie zog gleichmäßig Arme und Beine an und streckte sie wieder durch. Meine kleine Froschprinzessin. Ich liebte sie so sehr, dass sich mir das Herz zusammenzog.
Ich sah, dass sie die Lippen bewegte, als würde sie eine geheime Zauberformel sprechen. Und sie schwamm! Mein Mädchen konnte schwimmen! Vor lauter purem, göttlichem, peinlichem Mutterstolz schossen mir die Tränen in die Augen. Lieber Gott, sie schwimmt! Vielen, vielen Dank! Sie kann es! Ich war noch nie so stolz auf sie gewesen.
»Sarah, looooos! Du schaffst das!«, heulte eine Mami neben mir. Jetzt veranstalteten wir einen Lärm wie ein ganzes Fußballstadion. Okay, ein kleines Fußballstadion.
»Oskar, ziiiiieh!«
»Jaaa, Lotte, du hast es drauf!«
Ich hielt mich zurück, schrie nicht und blinzelte lediglich mit einem Lachen meine Tränen weg. Hilfe, wie albern wir uns aufführten! Das reinste Affentheater.
Über drei Köpfe hinweg sah ich Maja ihre Bahn ziehen. Gleichmäßig, Arme und Beine gleichzeitig, sie hielt den Kopf schön hoch. Dabei schnaufte sie und murmelte. Die Hälfte hatte sie hinter sich. Mein Herz jubelte. O Gott, aber was war denn jetzt los? Ihr Gesicht mit der Schwimmbrille war nicht mehr zu sehen, sie war untergegangen! Ich kreischte! Leonies Mutter steckte sich den Finger ins Ohr, das nahm ich aber nur am Rande wahr.
»Hilfe! Tut doch was! Sie ertrinkt!«, schrie ich. Alle sahen mich fassungslos an. Doch sogleich war der Moment des Schreckens vorbei. Vanessa schwamm neben Maja, bereit einzugreifen, aber Maja hob von selbst den Kopf, spuckte, japste nach Luft – und schwamm zügig weiter.
Ich merkte, dass ich schwitzte. Mir kullerten die Schweißtropfen von der Stirn über den Hals. Das hier war viel anstrengender als Sport, spannender als The Ring und nervenaufreibender als ein Bewerbungsgespräch.
Mit Maja zusammen erreichten noch sieben andere Kinder das Ziel. Gustav hatte als Einziger kurz nach der Hälfte aufgegeben und sich heulend an den Beckenrand geklammert. Seine Mutter schlich traurig davon. Wir anderen fielen uns jubelnd in die Arme, egal, ob wir uns kannten oder nicht, riefen: »Herzlichen Glückwunsch, wie toll, ich kann es gar nicht glauben!«, drückten uns und waren schier in Silvesterlaune.
Maja kletterte aus dem Becken, sah mich an der Glasscheibe stehen, zeigte mir ihren hochgereckten Daumen und grinste. Mit ihrer Taucherbrille sah sie einfach zu süß aus. Ich warf ihr Kusshändchen zu und beeilte mich, sie bei der Dusche abzuholen.
Als ich sie in der Umkleidekabine endlich wieder losgelassen hatte, fragte ich sie, was sie die ganze Zeit geredet hätte.
»Mami, is hab mir die ganze Zeit gesagt: Is saff das. Is kann das. Is saff das. Is kann das.«
Wieder einmal überraschte sie mich. Woher hatte sie bloß diesen Kampfgeist? Sie war buchstäblich ins kalte Wasser gesprungen und ihrer Angst davongeschwommen. Sie hatte sich selbst gut zugeredet und ihr Ziel erreicht. Sie war mutig und zielstrebig. Ich konnte so viel von ihr lernen. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen, ich lachte und weinte zugleich, drückte sie, klitschnass, wie sie war, an mich und kitzelte sie, bis sie vor Lachen quietschte. Die anderen Mütter tobten ebenso ausgelassen in der Umkleidekabine mit ihren Töchtern herum, überall hörte man Gelächter.
Als wir nach Hause kamen, wartete die nächste Überraschung auf mich. Lilly saß inmitten all ihrer Koffer und einiger Reisetaschen auf den Stufen vor unserer Haustür. Dabei sagt die Anzahl der Koffer nicht unbedingt etwas über die Länge des Urlaubs aus. Ich nehme ja auch ungefähr zwölf Taschen mit, wenn ich mal übers Wochenende wegfahre. Da ich ihr angeboten hatte, bei uns einzuziehen, war ich
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