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Halte meine Seele

Halte meine Seele

Titel: Halte meine Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Vincent
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bei Peter Pan. Wendy soll meinen Schatten wieder annähen …“
    Nash und ich wechselten fragende Blicke, und im selben Moment legte Scott den Kopf schief, wie ein Hund, der einem für menschliche Ohren nicht hörbaren Pfeifen lauscht. Dann hob er den Kopf und sah Nash direkt in die Augen. „Kannst du mir eine Cola holen, Hudson? Ich hab das Mittagessen ausgelassen.“ Es war echt unheimlich, wie normal seine Stimme plötzlich klang, fast so unheimlich wie die Kinderstimme kurz zuvor. Ich blickte Nash fragend an, doch er nickte bloß und stand auf.
    „Behalt ihn einfach im Auge“, flüsterte er und drückte mir aufmunternd die Hand. Beim Rausgehen ließ er die Tür einen Spalt offen stehen.
    Weil es mir unangenehm war, Scott in seinem Zustand anzustarren, schaute ich mir die Einbauregale näher an, die hinter dem wuchtigen Schreibtisch mit den verzierten Füßen und dem eindrucksvollen Stuhl aufragten.
    „Sieh sie dir ruhig an“, sagte Scott, und ich zuckte vor Schreck zusammen.
    „Was?“
    „Du liest gerne, oder?“ Er neigte den Kopf zur Seite und schien einer Antwort zu lauschen, die ich nicht gegeben hatte. „Ein paar von denen sind richtig alt. Sind sogar ein paar Erstausgaben dabei.“
    Er sah mich so aufmunternd und hoffnungsvoll an, dass ich seiner Aufforderung nach kurzem Zögern nachkam und vor das Regal trat, darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Eine alte Ausgabe von Tess von den d’Urbervilles hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Sie stand auf dem zweitobersten Brett, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen und fuhr mit den Fingern über die goldenen Buchstaben auf dem Einband.
    Das Klicken des Türschlosses, laut wie Donnerhall, ließ mich herumfahren: Scott stand vor der geschlossenen Tür und summte leise vor sich hin.
    Mein Herz raste los, und das Blut rauschte mir in den Ohren. „Scott, was ist los?“
    Er hob ruckartig den Kopf und starrte mich aus fiebrig glänzenden Augen an. Das rhythmische Murmeln wurde lauter, und er schien sich mit jemandem zu streiten, auch wenn ich den genauen Wortlaut nicht verstand. Ähnlich wie im Auto vorhin schüttelte er vehement den Kopf. „Kannst du ihn hören?“, fragte er.
    Vorsichtig näherte ich mich dem Schreibtisch zwischen uns. „Wen hören, Scott? Was hörst du?“
    „Er sagt, du kannst ihn nicht hören“, erklärte er. Dann: „Nein, nein, nein, nein …“
    Ich schob mich zentimeterweise vorwärts. „Wen hörst du?“, wiederholte ich, so ruhig ich konnte.
    „Ihn. Im Dunkeln kann ich ihn nicht sehen, aber hören. In. Meinem. Kopf!“ Um seine Worte zu unterstreichen, schlug er sich dreimal mit der flachen Hand gegen die Schläfe. „Hat meinen Schatten gestohlen. Aber ich höre ihn noch …“
    Meine Hände zitterten, und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sah Scott wirklich jemanden, den niemand außer ihm sehen konnte? Hörte er etwas, das nur für seine Ohren bestimmt war? Todd hatte mir bewiesen, dass so etwas durchaus möglich war …
    Aber das klang nicht nach dem Werk eines Reapers. Reaper konnten keine Schatten stehlen. Oder doch?
    Scott rollte in dem Versuch, etwas am Rande seines Blickfelds zu erkennen, die Augen. Mir drehte es schier den Magen um. Diese Augenbewegung kannte ich. Ich machte es genauso, wenn ich einen Blick in die Unterwelt werfen wollte, auf die sich im dichten grauen Nebel windenden Gestalten, die ich hören, aber nicht sehen konnte.
    Konnte er den Nebel sehen? Konnte er Dinge sehen? Sprach jemand aus der Unterwelt mit ihm?
    Nein. Das war unmöglich. Trotzdem bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut.
    „Was hat er gesagt?“ Ich hatte den Schreibtisch umrundet und ging langsam auf ihn zu. Sobald Nash zurück war, würde ich einen Blick in die Unterwelt werfen, um das Unmögliche auszuschließen. Es war ausgeschlossen, dass Scott diese andere Wirklichkeit sehen oder hören konnte. Er wusste ja nicht einmal von deren Existenz.
    Außerdem, wie sollte ein Wesen, das die Weltengrenze nicht überschreiten konnte, hier herüberschreiten?
    Scott lächelte das Lächeln eines Sterbenskranken, der weiß, dass sich die Schmerzen und die Nebenwirkungen der Operationen und Medikamente nicht mehr lohnen. Der entschlossen ist, aufzugeben und sich dem Tod zu überlassen. „Bring mich zu ihm. Er hilft mir, wenn du mich zu ihm bringst.“
    Mir gefror das Blut in den Adern, und ich wich zurück, als Scott auf mich zukam. „Wohin denn?“
    „Dorthin.“ Er rieb sich die Schläfen, so als habe er Kopfschmerzen.

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