Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
um. Ich habe die SIS , und wenn er noch mal vor meinem Haus auftaucht und auch nur einen Fuß auf mein Grundstück setzt, soll er mich mal kennenlernen.«
»Also, irgendwie gefällt mir das gar nicht«, sagte Maggie.
Ich dachte an das, was Bosch gerade gesagt hatte: dass Jessup wahrscheinlich auch meine Adresse hatte.
»Mir auch nicht«, sagte ich.
24
Mittwoch, 31. März, 9:00 Uhr
B osch hätte nicht ins Gericht kommen müssen. Er würde dort erst gebraucht, wenn die Auswahl der Geschworenen abgeschlossen war und der eigentliche Prozess begann. Aber er wollte sich den Mann, den er mit dem SIS -Team aus der Ferne beobachtet hatte, aus der Nähe ansehen. Er wollte wissen, ob Jessup eine Reaktion zeigte, wenn er ihn sah. Es war eineinhalb Monate her, dass sie auf der Fahrt von San Quentin nach L.A. einen langen Tag miteinander verbracht hatten. Bosch hatte das Bedürfnis, näher an den Mann heranzukommen, als es ihm bei einer Observierung möglich war. Es würde ihm helfen, das Feuer in seinem Innern am Brennen zu halten.
Es war eine Statusbesprechung, in der die Richterin alle noch anstehenden Anträge und Fragen geklärt haben wollte, bevor am nächsten Tag die Auswahl der Geschworenen begann und das Verfahren nahtlos in die Hauptverhandlung überging. Es gab noch verschiedene Fragen bezüglich des Zeitablaufs und der Geschworenen, und beide Parteien mussten eine Liste ihrer Beweisstücke einreichen.
Die Anklage war bestens vorbereitet. In den vergangenen zwei Wochen hatten Haller und McPherson an ihrer Falldarstellung gefeilt, Zeugenbefragungen geprobt und sämtliche Beweismittel noch einmal auf Herz und Nieren geprüft. Sie hatten bis ins Kleinste geplant, wie sie das vierundzwanzig Jahre alte Beweismaterial präsentieren würden. Sie waren bereit. Der Bogen war gespannt, und der Pfeil wartete darauf, von der Sehne zu schnellen.
Sogar bezüglich der Todesstrafe hatten sie eine Entscheidung getroffen – beziehungsweise angekündigt. Haller hatte seinen Antrag offiziell zurückgezogen, obwohl Bosch von Anfang an vermutet hatte, dass der Versuch, Jessup damit zu drohen, nur Show gewesen war. Im Kern seines Wesens war Haller Strafverteidiger und als solcher nicht in der Lage, über seinen Schatten zu springen. Angesichts der Schwere der Anklagepunkte hätte ein Schuldspruch für Jessup eine lebenslängliche Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer frühzeitigen Entlassung zur Folge, und das musste als Sühne für Melissa Landys Tod genügen.
Auch Bosch war bereit. Er hatte gewissenhafte Nachermittlungen zu dem Fall angestellt und alle Personen, die in den Zeugenstand gerufen werden sollten, ausfindig gemacht. Daneben war er, sooft es sich hatte einrichten lassen, mit der SIS unterwegs gewesen – in Nächten, in denen seine Tochter bei Freundinnen oder bei der stellvertretenden Schuldirektorin Sue Bambrough übernachtete. Er war, was seine Belange anging, gut vorbereitet und hatte Haller und McPherson geholfen, ihrerseits gut vorbereitet zu sein. Auf Seiten der Anklage herrschte große Zuversicht, und das war für Bosch ein weiterer Grund, im Gerichtssaal zu erscheinen. Er wollte dabei sein, wenn es losging.
Richterin Breitman kam in den Saal, und kurz nach neun wurde die Sitzung für eröffnet erklärt. Bosch hatte auf einem Stuhl an der Schranke Platz genommen, direkt hinter dem Tisch der Anklage, an dem Haller und McPherson saßen. Sie hatten ihm angeboten, zu ihnen an den Tisch zu kommen, aber Bosch zog es vor, im Hintergrund zu bleiben. Er wollte Jessup von hinten beobachten können, und außerdem ging von den beiden Anklägern zu viel Nervosität aus. In Kürze würde die Richterin entscheiden, ob Sarah Ann Gleason im Prozess gegen Jessup als Zeugin auftreten dürfte. Wie Haller am Abend zuvor ganz richtig bemerkt hatte, hing alles von dieser Entscheidung ab. Wenn sie Sarah als Zeugin verloren, verloren sie auch den Prozess.
»Hiermit wird die Strafsache
Kalifornien gegen Jessup
fortgesetzt«, verkündete die Richterin, nachdem sie auf der Bank Platz genommen hatte. »Einen schönen guten Morgen allerseits.«
Der Richterin schallte ein ganzer Chor von »Guten Morgen« entgegen, worauf sie unverzüglich zur Sache kam.
»Morgen beginnen wir mit der Auswahl der Geschworenen für dieses Strafverfahren, und danach steht der Hauptverhandlung nichts mehr im Wege. Deshalb ist heute der Tag, an dem wir sozusagen die Garage leer räumen, um endlich das Auto darin abstellen zu können. Falls es noch irgendwelche
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