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Hartland

Hartland

Titel: Hartland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Buescher
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ein Geier diesmal, ein Truthahngeier. Den Namen trug ihm sein häßlich lappiger Kopf ein, aber den sah ich nicht, so hoch stand der Geier über mir. Ich erkannte ihn an den geschwungenen Flügeln, ausfedernd wie Finger. Jetzt vollführte er einen seiner Kunstflüge über mir, trieb sein Spiel mit der Erdenschwere des ungeflügelten Menschenwesens dort unten und wartete ab, wann das Aas auf zwei Beinen schwach würde und liegenblieb.
    In einer Senke lullte mich warmer Wind ein wie eine Haut. Kaum stieg ich aus ihr hervor, schmiß er mir eine Handvoll Dreck ins Gesicht. Ich blinzelte und rieb mir die tränenden Augen. Da, eine flüchtige Bewegung, mehr erahnt als erblickt – ein wilder Truthahn, keine zehn Meter neben mir. Ich blieb stehen und schaute ihn an, aber der scheue Vogel rannte nicht weg, auch er hielt inne in seinem schaukelnden Lauf und betrachtete mich, offenbar nicht weniger erstaunt: Sieh da, ein wilder Truthahn. Sieh an, ein Mensch. Eine rare Begegnung für beide. Der scheue Vogel kannte andere wilde Truthähne, sicher auch Dachse, Schlangen, Kojoten, aber keinen Menschen zu Fuß. Und traf er doch einmal einen, war es das letzte, was er sah, dann war es der Jäger, der auf ihn anlegte. Unser wechselseitiges Anstarrenwährte ein paar Sekunden, bis der Truthahn genug gesehen hatte. Sein Kopf ruckte, er fiel wieder in seinen eigentümlich halsschlackernden Lauf und verschwand im Gebüsch, und ich ging den nächsten Hügel an.
    Den Kopf und den Blick gesenkt, um mir den aufgewirbelten Staub zu ersparen und den Anblick des Anstiegs, der vor mir lag, langte ich eine Stunde später oben an, und was sich mir darbot, war unerwartet und überwältigend. Ich sah das Staunen und den Schrecken der ersten Weißen hier. Ich sah die Prärie. Sah, wie sie gewesen war.
    Diese Männer, deren Träume und Leid, deren Hoffnung und Entsetzen ich mir vorzustellen versuchte, waren von demselben Kontinent gekommen wie ich, aus jener gesegneten Welt voller Dörfer und Städte, aus dem Garten Europa, gegliedert von Tälern, Wäldern, Flüssen, Seen, Gebirgen – aus Landschaften kamen sie, jede anders, besonders, beschrieben von alters her. Hier aber war keine Landschaft. Nur Land, Land, Land, niederschmetternd baumlos, endlos, nichts war je anders, besonders, beschrieben, alles gleich, gleich, gleich. Und sie selbst waren Schiffbrüchige, ausgesetzt auf dem Ozean aus Gras, in dieser unheimlichen Gleichheit aller Erscheinungen und Horizonte. Ein Ritt, ein Tag wie der andere, die gegen unendlich wogende Gleichförmigkeit der Prärie. Hunger, Durst, rasch eintretender Orientierungsverlust, am Ende nackte Angst – so hatte ich versucht, mich in das, was diese Männer erlebt haben mußten, hineinzuphantasieren, befeuert durch die Lektüre alter Berichte. Es war mir schlecht gelungen, es blieben alte Berichte.
    Aber jetzt stand ich hier, ringsum nichts als strohgelbes Grasland, Hügelwellen, so weit das Auge reichte, und wirklich, wenn der Wind durchs Büffelgras ging, hatte es Ähnlichkeit mit dem Meer. Es war die Konza-Prärie, nur ein kleiner vom Feind, dem Fortschritt, großzügig verschonter Rest, und doch groß genug, um den staubigen alten Berichten Leben einzuhauchen.
    Im Oktober 1541 saß Don Francisco Vázquez de Coronado in einem indianischen Pueblo am Oberlauf des Rio Grande, einem Ort, den die Spanier Tiguex nannten. Sein Zug nach dem Goldland, vor über zwanzig Monaten so grandios begonnen, war gescheitert. O ja, er hatte El Dorado mit seinen eigenen Augen gesehen. Jedes neue El Dorado, das eingeborene Informanten ihm vorgegaukelt hatten, um ihn und seine spanischen Mäuler loszuwerden, die die Vorräte der Indianer aufaßen, und das Heer immer tiefer hinein ins Unbekannte zu schicken, hoffend, daß sie alle umkommen würden. Und Coronado hatte jedes neue El Dorado erobert, jeden neuen goldenen Traum, jede neue Lüge.
    Die erste hatte der Mönch aus Nizza erzählt. Seine sieben goldenen Städte gab es nicht, nur staubige Pueblos am Rio Grande. Coronado nahm sie ein, unterstellte sie feierlich dem König von Spanien und überwinterte dort. Eines Tages tauchte El Turco auf, ein fremder Indianer, die Spanier nannten ihn so, weil seine Gesichtszüge sie an die von Türken erinnerten. El Turco berichtete den Spaniern von einem El Dorado weit im Nordosten, hinter der großen Prärie, am fernen Ufer des Ozeans aus Gras. Von herrlichen Städten sprach er, von reichen indianischen Fürsten in goldenenHäusern, vom hellen

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