Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
untergewichtig und zu klein für sein Alter. Er hatte ständig Infekte, fing erst spät an zu laufen und fand immer den kürzesten Weg in irgendeinen Schlamassel. Mum und Dad hatten oft große Mühe gehabt, die Geduld mit ihm zu bewahren. Und es war ihnen nicht immer gelungen.
    Sie erinnerte sich, wie sie einmal in den Ferien aus dem Garten ins Haus gekommen war, aus der Sonne ins Kühle. Die Eltern waren da, aber im Haus herrschte Stille, weshalb sie zögerte und dann leise die Treppe hinaufging. Sie fand ihre Mutter zuerst; sie saß in Shorts und Scholl-Sandalen auf der Bettkante im großen Schlafzimmer und starrte in den Spiegel. Mit ihren langen weißen Fingern drückte sie einen Kopfhörer an die Ohren, und etwas an ihrer Haltung, an der Anspannung der Hände und der gekrümmten Zehen in den Sandalen, ließ erkennen, dass Flea sie besser nicht ansprach. Dann sah Jill Marley ihre Tochter an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie schauten einander fast eine Minute lang in die Augen. Schließlich wandte Jill sich wieder dem Spiegel zu.
    Die Tür zu Thoms Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes stand halb offen. Flea ging auf Zehenspitzen hinüber und fand sich vor einem seltsamen Tableau wieder. Dad kniete mitten im Zimmer auf dem Boden. Der damals ungefähr achtjährige Thom stand einen Schritt vor ihm und sah ihn an. Sie sprachen nicht und bewegten sich nicht, sie starrten einander nur an. Dads Gesichtsausdruck war der, den er manchmal aufsetzte, wenn er fest entschlossen war, etwas zu tun - als glaubte er, dass die Kraft seines Blicks Berge versetzen könne. Zuerst dachte Flea, die beiden führten ein Gespräch. Aber dann erkannte sie, dass es kein Gespräch war, was da zwischen den beiden ablief, sondern Gewalt.
    David Marley holte Luft, schloss die Augen und schlug seinem Sohn ins Gesicht. Es war nicht der erste Schlag an diesem Nachmittag, das wusste Flea. Sie konnte sehen, dass es schon eine ganze Weile so ging: Dad starrte Thom an, Thom starrte zurück, und alle paar Sekunden hob Dad die Hand und schlug ihn. Und sie wusste auch, warum. Dad versuchte, Thom zu einer Reaktion zu bewegen. Aber das würde ihm nicht gelingen. Sie hätte Dad sagen können, dass er seine Zeit verschwendete. Thom stand mit leicht geöffnetem Mund da, den Blick in mittlere Ferne gerichtet. Er würde nicht reagieren. Er würde nicht weinen. So war Thom einfach. Aufreizend, distanziert, außerirdisch. Nicht ganz von dieser Welt.
    Und jetzt war er alles, was sie auf der Welt noch hatte. Mum und Dad lebten nicht mehr, und nur noch Thom konnte sie davon überzeugen, dass es ihre Kindheit wirklich gegeben hatte.
    Nachdem ihre Eltern verunglückt waren, hatte Thom nicht wieder zu seiner Schwester in das Haus der Familie ziehen wollen; er wohnte jetzt in Bristol in einer Doppelhaushälfte. Das Haus stammte aus den dreißiger Jahren und sah genauso aus wie die anderen in der Straße mit seiner gekachelten Fassade und der rautenförmigen Bleiverglasung in den Fenstern. Ein adrettes Haus. Auf der gefegten Türschwelle stand immer eine leere Milchflasche mit einem Zettel für den Milchmann. Thom fand seit Jahren keinen Job, und in letzter Zeit hatte er seine ganze Energie darauf verwandt, das Häuschen zu pflegen, während seine Freundin arbeiten ging. Thom - der hilflose Thom, so schlecht gerüstet für den Umgang mit der Welt. Und so dumm.
    »Du hättest vorher anrufen sollen.« Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, gerade so weit, dass er herausschauen konnte. »Du hättest anrufen sollen. Warum hast du es nicht getan?«
    »Ich habe angerufen«, zischte sie. »Dein Telefon war abgeschaltet.« Sie drückte gegen die Tür und rechnete damit, dass er zurücktreten würde. Aber das tat er nicht. »Thom. Du weißt, warum ich hier bin.«
    »Es war ein Unfall«, flüsterte er. »Ein Unfall.«
    »Lass mich rein.«
    »Es war ein Unfall. Ich wollte das nicht. Sie kam einfach zwischen den Bäumen heraus. Ich bin schnell gefahren. Ich hatte keine Chance.«
    »Wir müssen reden. Lass mich rein.«
    »Mandy kommt bald nach Hause.« Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Hemdes und wischte sich damit über Augen und Mund. »Dann will sie ihren Tee...«
    Flea stieß die Tür auf und ging an ihm vorbei ins Haus. »Mandy interessiert mich nicht. Wir müssen reden. Sofort. Komm.«
    Sie ging in das Wohnzimmer mit den Plastikblumen in der Vase und dem gläsernen Nippes auf dem kleinen Tisch - picobello aufgeräumt, staubgewischt, alles an seinem

Weitere Kostenlose Bücher