Haut
blätterte sie den nächsten Stoß durch, und bald schon hatte sie ein Schreiben mit dem Briefkopf der Bezirksverwaltung gefunden, an das ein Bogen geblümtes Briefpapier angeheftet war. »Das obere ist die Antwort, die wir allen schicken. Ein Formbrief, wissen Sie: >Wir kümmern uns um Ihr Anliegens Bla bla bla.<« Sie schlug das Antwortschreiben zurück und überflog den Brief darunter. »Ja, das ist sie. Ich nenne sie Ruth die Petze, weil sie andauernd versucht, Autofahrern Schwierigkeiten zu machen.« Sie reichte Flea den Brief. »Sie ist besessen von Tieren. Sie füttert Igel und Dachse, und wenn jemand auf der Straße auch nur eine Assel überfährt, dann kriegt Ruth die Petze es mit. Sie findet, wir sollten bei jedem Frosch, jeder Maus und jedem Wurm, der da plattgefahren wird, etwas unternehmen.«
Flea setzte sich mit dem Brief auf den niedrigen Plastikstuhl. Der Brief war handgeschrieben und hatte einen mit Rosen und Spatzen geschmückten Rand. Er stammte vom 18. Mai, dem Morgen nach Mistys Tod.
Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr, seit meinem letzten Schreiben vom 3. Januar habe ich kein Sterbenswörtchen von Ihnen gehört, und jetzt möchte ich Ihnen vier weitere Zwischenfälle melden. Ich habe den Eindruck, dass absolut nichts unternommen wird. Gestern Nacht handelte es sich um einen sehr ernsthaften Zwischenfall, bei dem ein Reh angefahren wurde. Wenn Sie mich ignorieren, tun Sie es auf eigene Gefahr.
Wie ich Ihnen schon häufig mitgeteilt habe, bin ich der Ansicht, dass alle diese Autofahrer zur Rechenschaft gezogen und da gepackt werden sollten, wo es wehtut. Wenn die Opfer Menschen wären, hätten Sie die Fälle zweifellos längst aufgeklärt. Man würde es »Fahrerflucht« nennen und die Polizei hinzuziehen. Ich habe Beweise, die ich bei Gericht vorlegen kann, wenn Sie mir die Möglichkeit dazu geben. Ich fordere Sie nochmals auf, diese Straftäter so zu verfolgen, dass es ihnen wehtut. ES IST NUR EINE FRAGE DER ZEIT, WANN WIEDER EINE MEINER KATZEN GETÖTET WIRD. Diese Sorge bereitet mir schlaflose Nächte und verkürzt mein Leben. Auch dafür kann ich Sie verklagen.
Ruth Lindermilk
Die Sachbearbeiterin war aufgestanden und beugte sich über einen Aktenschrank. Aus einer unteren Schublade zog sie weitere Blätter hervor. Flea beobachtete sie, ohne sie wirklich zu sehen. 17. Mai. Zehn nach elf. Ein silberfarbener Ford Focus. Das Kennzeichen endete mit GBR. Ein »Reh« überfahren, auf der Straße unterhalb der Siedlung.
»Hier sind die anderen.« Die Sachbearbeiterin kam zum Schreibtisch zurück und warf die Briefe neben die aus der Eingangsbox. »Die sind alle von Ruth Lindermilk.«
Flea schob sie hin und her und stellte fest, dass die Daten bis in das Jahr 2001 zurückreichten. Sie waren in der gleichen hektischen Handschrift verfasst und enthielten die gleichen Tabellen, in die Ruth sorgfältig Daten, Uhrzeiten und Autokennzeichen eingetragen hatte.
»Seit Jahren schickt sie uns Briefe. Sie ist besessen.«
Flea legte die alten Briefe zusammen und gab sie zurück. »Sie haben recht. Die Frau hat einen Knall. Offensichtlich.«
Die Sachbearbeiterin trug die Brief wieder zum Aktenschrank und schob sie in die Hängeregister. Flea faltete den Brief vom Mai zusammen und steckte ihn in die Gesäßtasche ihrer Jeans, bevor die Frau es bemerkte. Sie nahm einen Brief aus der Eingangsbox, legte die Antwort der Bezirksverwaltung darüber, um zu verbergen, dass es sich nicht um Ruths Brief handelte. Sie hielt ihn hoch, als die Sachbearbeiterin zu ihr herüber schaute.
»Vielen Dank hierfür.« Sie schob den Brief ganz unten in den Stapel, sodass es ein paar Tage dauern würde, bis die Behörde sich darum kümmerte. »Sie haben mir sehr geholfen.«
38
Caffery spähte an der Treppe in der Maisonette nach oben. »Vermutlich haben Sie den Schlüssel nicht dabei? Zum Atelier?«
»Ich hab nicht damit gerechnet, dass wir herkommen. Sagen Sie mir beim nächsten Mal Bescheid.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Caffery zog Handschuhe an, schaltete den Computer ein und sah sich die Cache-Ordner an, in denen die Internet-Cookies gespeichert sein mussten. Es waren nur zehn. Eine Zeit lang saß er vorgebeugt am Schreibtisch, dicht vor der leeren weißen Fläche, wo die Dateien hätten sein müssen. Der Papierkorb war ebenfalls leer. Manchmal ist der entscheidende Beweis das, was fehlt, hatte ein kriminalpolizeilicher Ausbilder einmal zu ihm gesagt. Manchmal ist es nicht das, was du siehst, sondern
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