Havelwasser (German Edition)
Sein rechter Zeigefinger folgte einer Zeile von links nach rechts, und dann nickte er zufrieden. „Vielleicht ist dein Mörder noch viel intelligenter, als wir es derzeit vermuten?“
Manzetti verstand den Satz nicht gleich. „Das bisherige Ausmaß an Intelligenz reicht mir vollkommen.“
„Nicht den Mut verlieren, Junge. Die Sache hört sich unter Umständen nur komplizierter an, als sie ist. Vielleicht kann man sie ganz einfach lösen, wenn wir den Anfang des Fadens erst einmal in den Händen halten und aufpassen, dass er nicht reißt.“
„Wie meinst du das?“
„Es genügt nicht, Augen zu haben, man muss lernen, sie auch zu gebrauchen.“
„Hört sich sehr philosophisch an.“
„Sicher. Ist aber nicht von mir. Aber zurück zu deinem Fall. Hier steht, dass man den Toten einen Obolus unter die Zunge legte …“ Während einer kurzen Pause las er still weiter, um das Gelesene dann laut zu wiederholen. „Dann steht hier noch, dass der Obolus eine geringwertige Münze war und sechs Obolussen den Wert einer Drachme sowie sechstausend Drachmen den Betrag eines Talents ausmachten.“ Herbert blätterte die Seite um, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen. Er war nun ganz in seinem Element. „Allerdings taucht da eine Frage auf? Findest du nicht?“
„Welche wäre das?“
„Den Toten wurde also in der griechischen Mythologie eine Münze unter die Zunge gelegt. Warum aber, und das ist für uns doch interessant, wird dieses Detail so verfälscht? Ist es Absicht oder nur Unwissenheit?“
Daran hatte Manzetti noch gar nicht gedacht.
„Nehmen wir einmal an, es ist Unwissenheit. Da fällt mir nämlich ein, dass ich einmal einen Film gesehen habe, in dem dieser Bestattungsritus genauso falsch dargestellt war. Da wurden Münzen für den Fährmann Charon auf die Augen gelegt, der die Toten dann über den Styx gebracht hat. Wenn der Mörder sein Wissen aber aus derselben falschen Quelle bezieht, dann irrt er noch in anderer Hinsicht. Es ist nämlich nicht der Styx, über den die Toten transportiert werden, sondern der Acheron.“
„Ja, genau das habe ich auch geglaubt“, musste Manzetti zugeben.
„Offensichtlich ist diese Version recht verbreitet. Gehen wir also mal davon aus, auch der Mörder hält sie für richtig, dann will er uns einen Hinweis auf den Styx geben … Lies vor, was du zum Styx findest.“
Manzetti, der mittlerweile das Lexikon in den Händen hielt, blätterte bis zum Buchstaben S und suchte dann auch mit dem Finger den Begriff „Styx“. Sein halblautes, aber fast melodisches Brummen verriet, dass er die ersten Sätze überflog, da sie bereits bekannte Informationen enthielten. „Hier“, rief er dann plötzlich aus wie Archimedes sein Heureka.
„Achilles“, las er vor, „wurde von seiner Mutter Thetis im Styx gebadet, um ihn unverwundbar zu machen. Nur die Ferse, an der sie ihn festhielt, blieb angreifbar.“
„Deshalb Achillesferse“, folgerte Herbert. „Das heißt, dass die Achillesferse in unseren Blickpunkt geraten soll.“
„Möglich“, ergänzte Manzetti. „Vielleicht hat der Mörder uns wirklich auf diese Spur setzen wollen.“
„Steht zur Ferse etwas im Obduktionsbericht?“
Manzetti überlegte kurz. „Ich glaube nicht“, dämpfte er Herberts Erwartungen. „Aber warte. Was ist mit den Schuhen und ihren Fächern? Der Hacken, in dem das Elfenbein versteckt war, befand sich in unmittelbarer Nähe zur Achillesferse! Es geht vielleicht gar nicht um Kinderschänder, sondern um Elfenbein. Und vielleicht kommt der Hinweis auf die Kinderschändung von einer ganz anderen Person, die Interesse daran hat, von dem Elfenbein abzulenken. Eine absichtlich gelegte falsche Spur. Schließlich tauchten die Briefe erst später auf.“
„Dazu passt auch, dass sich sowohl Becker als auch der Diakon …, wie hieß er gleich noch?“
„Weinrich“, half Manzetti nach.
„… als auch Diakon Weinrich im südlichen Afrika aufgehalten haben“, sagte Herbert im Hinsetzen und schlug sich stolz auf die Knie.
„Genial, oder?“, lobte er sich dann noch einmal und forderte zur Belohnung einen neuen Grappa.
„Herbert, wir sind gleich betrunken.“
„Egal.“
Ihre Überlegungen schienen schlüssig. Aber Manzetti überlegte weiter: „Ich frage mich nur, warum sich jemand solche Mühe geben sollte?“
„Das weiß ich auch nicht“, musste Herbert zugeben und fragte deshalb: „Wer erbt eigentlich die Million von diesem Becker und wie viel Geld hatte Weinrich?“
Es schien
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