Heidenmauer
ausprobiert und war doch zu keinem Ergebnis gelangt. Er musste anders an die Sache herangehen und war deshalb auf den Dachboden gegangen.
Die Luft hier oben, direkt unter dem isolierten Dach, war so trocken und staubig, dass sofort ein stechender Reiz in der Kehle entstand, sobald man durch den Mund einatmete. Von der Lampe fiel ein trübes Licht in den Gang. In den hinteren Winkeln der Regale, ausgesonderten Rollschränken und anderer Büromöbel blieb es duster. Robert Funk wartete die Zeit, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Es war lange her, dass er hier oben im Speicher gewesen war. Es roch nach alterndem Papier und ungesunder Trockenheit. Der Schein der kleinen, schwarzen Mag-Lite kroch über alte, bis zum Rand vollgestopfte Aktenordner, die über die Jahre hinweg jeglichen Halt verloren hatten. Wie morsche Bäume grätschten die Kartonhüllen zur Seite, nur gehalten von anderen, ebenso hinfälligen Karteileichen und starren Regalwänden. Zwischen den Deckeln verrottete mit den Dokumenten auch die Erinnerung an längst vergessene Kriminalfälle und Schicksale. Robert Funk ging langsam über die hart verspannten Holzdielen, die kein Geräusch von sich gaben. Er las die Nummern und Jahreszahlen auf den Aktenrücken, und wanderte die Jahre zurück.
Gesichter tauchten vor ihm auf, darunter längst verstorbene Kollegen, die Fratzen weniger großer und vieler kleiner Krimineller, Geschichten, Stimmungen, Gerüche und ein Korb, gefüllt mit den unterschiedlichsten Gefühlen. Er blieb ab und an stehen und genoss die Erinnerung, wunderte sich, wie der bloße Anblick einer Jahreszahl, eines Aktenzeichens oder eines Namenskürzels all das scheinbar Vergessene wieder zum Leben erwecken konnte. Genau das war es, was er beabsichtigte; er versuchte, sein Erinnern in eine bestimmte Richtung zu lenken, und nutzte den Aktenmüll des Speichers als Medium. Dieses Bild wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn gehen. Am Vormittag war er auf der Insel gewesen und hatte im Antiquitätenladen in der Ludwigstraße den kleinformatigen Stich betrachtet, der im Schaufenster stand und eine Ansicht Konstanz aus dem 19. Jahrhundert zeigte. Fast eine Kopie des Gemäldes, das Leo Korsch beschrieben hatte. In der letzten Nacht hatte er schon schlecht geschlafen, denn dieses Gemälde ließ ihn nicht los. Er wusste, er hatte es schon einmal gesehen, und es stand in Beziehung zu einem Stoß Papier, der hier irgendwo zwischen den Aktendeckeln vor sich hin dämmerte.
*
Schielin saß in Wenzels Büro, Lydia stand im Türrahmen und hörte die Geschichte mit den Bonbonpapierchen zum zweiten Mal. Angesichts der wenigen Spuren, die sie hatten, war das immerhin ein kleiner Lichtblick, sollte Wenzel mit seiner Vermutung recht haben. Zunächst sollte untersucht werden, ob sich DNS und Fingerspuren würden sichern lassen. Die konnte man dann mit denen Bamms vergleichen, und dann war man einen Schritt weiter, wäre gesichert, dass Bamm auf dieser Bank gesessen hatte. Sollten unterschiedliche DNS-Profile gesichert werden, dann hätte man einen zwar dünnen, aber doch unumstößlichen Beweis. Lydia Naber nahm die beiden Plastiktüten aus der Kiste und machte sie für den Transport zum rechtsmedizinischen Institut in Memmingen fertig. Das LKA brauchte viel zu lange, bis brauchbare Ergebnisse vorlagen.
Es begann schon zu dämmern, doch alle Büros waren noch besetzt. Jasmin Gangbacher schrieb für Robert Funk den Tatortbefundbericht zum Stadeleinbruch ins Reine, Adolf Wenzel blätterte die LKA-Blätter durch und suchte nach Fällen, die für sie in Lindau interessant sein konnten; Schielin und Lydia klapperten ebenfalls auf ihren Tastaturen, und aus dem Besprechungszimmer kam plötzlich ein Duft, der wie eine gute Fee über den Gang hinweg in jedes Büro schlich und letztlich alle in den Besprechungsraum lockte: Kaffee! Gommert stand versonnen vor einer alten Kaffeekanne, die er in irgendeinem Schrank gefunden hatte. Auf der Kanne prangte ein großer Melitta-Porzellanfilter, und Erich Gommert ließ behutsam und stetig dampfendes Wasser aus einem Wasserkocher in den Filter laufen. Was für ein Duft, was für ein Aroma! Obwohl es schon spät war und jeder den Schlaf der Nacht gebraucht hätte, konnte und wollte niemand widerstehen. Alle nahmen eine Probe von Erich Gommerts Provisorium. All die blinkenden, teuren modernen Kaffeeautomaten – und keiner war imstande, ein solches Aroma zu zaubern. Im Grunde genommen war es kein Aufwand, auf diese
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