Heidenmauer
Gangbacher ihr zugeschoben hatte, von der Tischplatte und sah es lange an. Es war ein Quittungsbeleg des Parkautomaten an der Inselhalle. Selbst als sie erkannt hatte, worum es sich handelte, brauchte sie noch eine Weile, um zu realisieren, dass es die Uhrzeit war, die für die Polizisten interessant war. Sie lächelte, als sie die Zeit las. Eine gute halbe Stunde nach Mitternacht war er ausgedruckt worden.
Jasmin Gangbacher sprach ruhig, aber nicht weniger fordernd: »Dieser Quittungsbeleg lag in Ihrem Auto. In der Seitenablage. Er wurde am vorletzten Sonntag ausgedruckt, eine halbe Stunde nach Mitternacht. Wir möchten eine Erklärung dafür.«
»Mein Vater war Buchhalter. Irgendwas muss da bei mir hängen geblieben sein. Immer und überall brauche ich einen – Beleg.«
»Ein schönes Wort«, sagte Lydia Naber scharf, »Belege dienen dazu, etwas zu belegen. Und dieser unscheinbare Zettel belegt doch wohl, dass Sie entgegen Ihren bisherigen Aussagen viel länger auf der Insel unterwegs waren, als Sie uns bisher gesagt haben. Überhaupt sind Ihre bisherigen Aussagen, eine Abfolge von Lügen. Erst gaben Sie an, bei einem Familienfest auf der Alb gewesen zu sein – gelogen. Dann sagten Sie, Sie wüssten nichts von einer weiteren Beziehung Günther Bamms – gelogen. Dann behaupten Sie, in der Tatnacht schon um dreiundzwanzig Uhr zu Hause gewesen zu sein – gelogen. Was meinen Sie, können wir – kann man Ihnen – eigentlich noch glauben.«
Sie hatte sich in Hedwig Kohler getäuscht. Sie blieb ruhig, zeigt keine Nerven und war von den Vorhaltungen nicht beeindruckt. Sie schob den Beleg langsam über den Tisch zurück und sagte mit ruhiger Stimme, ganz ohne Zittern: »Der Beleg belegt lediglich, zur aufgedruckten Uhrzeit ausgedruckt worden zu sein.«
Lydia Naber konterte sofort. »Aber wirklich nicht, Frau Kohler! Lassen Sie diese Taschenspielertricks, so funktioniert das nicht, und nicht einmal ein Anwalt, jedenfalls einer der die Situation richtig erkennt, würde versuchen, hier etwas in Zweifel zu ziehen. Ihre Fingerabdrücke sind auf dem Ding, und und und. Also, jetzt erzählen Sie doch mal, was an jenem Sonntagabend wirklich geschah! Wir sind sehr gespannt!«
»Ich bin an jenem Abend auf die Insel gefahren.«
»Das ist uns bekannt, auch die Uhrzeit, die Sie angegeben haben, dürfte in etwa stimmen. Was geschah in der Zeit zwischen zweiundzwanzig Uhr und null Uhr dreißig!?«
Hedwig Kohler hob den Kopf und sah an die Decke. Sie wirkte wie abwesend und sah überhaupt nicht unglücklich aus oder wie jemand, der sich in Bedrängnis befand. Wieder trat Stille ein, das Klacken der Küchenuhr drang an die Ohren, und der Kühlschrank schaltete sich mit einem heftigen Rütteln aus. Leises Klirren von Flaschen war zu hören. Es war, als weckte das Geräusch Hedwig Kohler auf. Lydia Naber hatte sie eingehend beobachtet und wollte gerade die Frage stellen, ob sie vielleicht Medikamente nahm, doch da begann sie zu reden, und das wollte Lydia Naber unter keinen Umständen unterbrechen.
»Ich war wirklich in der Hotelbar und habe ihn dort nicht getroffen. Bin dann mit dem Auto zurückgefahren. Aber nicht die Zwanzigerstraße vor. Ich wollte über den Alten Schulplatz und hinten über den Stiftsplatz über die Fischergasse rausfahren. Hatte mir gedacht, ob ich ihn da vielleicht treffe oder sein Auto irgendwo sehe. Ich habe ihn gesehen. Er kam von der Linggstraße her, zwischen Hotel Stift und Cavazzen ist er durchgelaufen. Hatte seinen weiten Mantel an. Ich war genau gegenüber vor der Stephanskirche gestanden und wollte eigentlich hupen. Er ist da aber nach links runter abgebogen und Richtung Grub im Dunkel verschwunden. Ich habe das erst gar nicht so richtig verstanden … Ich habe das Auto einfach stehen lassen und bin ihm nach. Er ist in diesem dunklen Gässchen verschwunden. War schon alles dunkel, aber oben, ganz oben ging Licht an, und Musik hat gespielt. Die Tür unten war nicht ganz ins Schloss gefallen, und ich bin nach oben und habe ein paar Minuten gelauscht. Dann bin ich nach unten und habe gewartet bis er rausgekommen ist.«
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Lydia Naber in die entstehende Pause.
»Das weiß ich wirklich nicht.«
»Dann sind Sie wieder nach oben«, brachte Jasmin Gangbacher das Gespräch wieder in Gang.
»Ja. Zuerst wollte ich ihm ja nachgehen, aber … irgendwie … ich weiß heute gar nicht mehr warum, aber ich blieb in der dunklen Ecke hinter dem Treppenaufgang stehen, und er
Weitere Kostenlose Bücher