Heike Eva Schmidt
getrost unter »Notwehr« verbuchen.
Während der eine mit dem Rücken zu mir stand und es fröhlich plätschern ließ, war der zweite noch über seine Stiefel gebeugt. Ich holte tief Luft, richtete mich unvermittelt aus meiner gebeugten Haltung auf und holte blitzschnell mit dem rechten Bein aus, als würde ich bei einem Frauenfußballturnier das entscheidende Tor schießen. Statt nach dem Ball trat ich jedoch nach der menschlichen Kugel, die da vor mir stand. Eigentlich hatte ich vor lauter Aufregung gar nicht richtig gezielt, aber offenbar hatte der Dicke meine Bewegung wahrgenommen. Er hob unvermittelt den Kopf, so dass mein Turnschuh seine Nase traf. Ich hörte ein hässliches Knacken und einen Schmerzensschrei, der mir die Haare zu Berge stehen ließ. Ich hatte noch nie jemanden geschlagen, nicht mal den frechen Hund, der mir damals auf Sylt meine teure Laufhose ruiniert hatte, als ich am Strand entlanggejoggt war und er sich in meinen Hosensaum verbissen hatte.
Reflexartig sagte ich: »Oh Shit! Sorry. Das wollte ich nicht …«, bis mir einfiel, bei wem ich mich da gerade entschuldigte. Der Typ würde wahrscheinlich noch eigenhändig den Scheiterhaufen entzünden, wenn man ihn ließe. Also ließ ich das mit der Entschuldigung bleiben. Der andere Wächter war bei dem Geschrei erschrocken herumgefahren und glotzte mit heruntergelassener Hose und mit offenem Mund auf den Dicken, der sich stöhnend die Hände vors Gesicht hielt. Sein Blick senkte sich auf das Kopfsteinpflaster, das vom Blut seines Kumpans rot gesprenkelt war. Anscheinend hatte er nun endlich kapiert, was los war, denn er warf sich mit einem dumpfen Wutbrüllen nach vorne und versuchte, mich zu packen. Ich duckte mich seitlich weg und trat wieder zu, diesmal traf ich die Kniekehlen. Prompt verlor er das Gleichgewicht, und weil ihm die Hose sowieso auf Halbmast hing, stolperte er und kippte nach vorn. Ungebremst fiel er gegen seinen Kollegen, der sich immer noch jammernd die Nase hielt. Mit einem dumpfen Aufprall gingen beide zu Boden.
Ein paar Sekunden lang stand ich sprachlos in der nachtklammen Gasse. Das Einzige, woran ich denken konnte, waren die alten Schwarz-Weiß-Filme von Dick und Doof. So, wie sich die beiden Stadtwächter da am Boden wälzten, hätten sie ohne weiteres aus einem der alten TV-Clips entsprungen sein können.
Zum Glück dauerte meine Erstarrung nur kurz. Noch ehe die zwei ihre verknoteten Extremitäten auseinandersortieren konnten, gab ich Fersengeld, als wolle ich einen neuen Rekord im Damensprint aufstellen. Im Zickzack rannte ich durch die Gassen und gab mindestens drei Minuten Vollgas, ehe ich in ein etwas langsameres Joggingtempo verfiel. Ich musste mich bemühen, nicht lautstark nach Luft zu japsen, denn der beständige Druck auf meine Kehle setzte mir zu. Dieser verdammte Kupferhalsreif! Wütend zerrte ich an dem Schmuck. Das Atmen wurde zu einer fast unerträglichen Qual. Wie immer bewegte sich das Halsband keinen Millimeter. Meine Lunge brannte, als hätte ich flüssiges Feuer eingeatmet, trotzdem wagte ich nicht, stehen zu bleiben. Alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft, und ich lief bemüht lautlos im Schatten der Häuserwände Richtung Domberg – den Weg, den Förg eingeschlagen hatte, nachdem er das Schreiben von dem Wiener Boten in Empfang genommen hatte.
Natürlich war weit und breit nichts mehr von ihm zu sehen. Bamberg war selbst im Jahr 1630 ziemlich weitläufig, und ich überlegte fieberhaft, wohin der Richter wohl verschwunden sein könnte. Ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass es sich bei dem Schreiben um den kaiserlichen Erlass handelte, der in den Geschichtsdokumenten erwähnt wurde und von dem man glaubte, dass jemand ihn absichtlich unterschlagen hatte, um die grausamen Hexenverbrennungen ungestört fortführen zu können. Mir fiel ein Abschnitt aus der Mail des Professors ein: Man hatte das Versteck »in den Räumen der Hofhaltung« vermutet. Es hatte noch die damalige Bezeichnung dabeigestanden, irgendetwas Lateinisches, doch sie wollte mir partout nicht einfallen. Cantum? Cortum?
Keuchend blieb ich im Dunkel eines Torbogens stehen. Was sollte ich tun? Zu Förgs Haus zurücklaufen und hoffen, Daniel und Jakob dort anzutreffen? Was aber, wenn dort schon die Häscher des Richters auf mich warteten? Nein, mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte.
Gerade als ich wieder loslaufen wollte, hörte ich näher kommenden Gesang. Hastig zog ich mich in den Schatten des
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