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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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junge Kollege, ob es richtig war, daß man in ihn die Leistung hineinglaubt? – Die Kinder jetzt noch nicht reinholen vom Hof, die sich noch etwas austoben lassen, die Motorik abreagieren, dann sitzen sie nachher desto stiller und aufmerksamer da.

    Die Schule war in einem offenen Winkel gebaut, so, als ob Pädagogik ihre Arme ausbreitet: Der Eingang befand sich durchaus mütterlich in der Mitte, mit Türmchen und Uhr oben drüber. Auf diesen Punkt führte der mit Hartriegelsträuchern eingefaßte Schulweg zu, diesen Weg mußte ein jeder nehmen, der in die Schule wollte. Und der Rektor stand genau an der richtigen Stelle.

    Ursprünglich hatte das Winkelsystem, in dem die Schule gebaut war, auf der Rückseite seine spiegelbildliche Entsprechung finden sollen: von oben aus gesehen ein großes X; vorne rein, ordentlich bilden und hinten fix und fertig wieder raus. Marmorplastiken waren auf dem Modell des Architekten zu sehen gewesen, vor der Eingangsallee«Jugend»und hinter der Schule, von wo aus zwei Berberitzenstreifen auf den Ausgang zuliefen,«Weg ins Leben», der Oberkreisdirekor hatte das Geld dafür zugesagt, und der Michelangelo des Landkreises hatte schon mit dem Modellieren angefangen, was voreilig gewesen war. Leider war der Traum des Doppelbaus nicht zu verwirklichen gewesen. Der großzügige Entwurf wurde gekappt, denn auch die Schule der Nachbargemeinde sollte eine neue Schule bekommen, und da mußte das Geld eben geteilt werden, was zur Folge hatte, daß beide Schulen nun halbfertig dastanden, wahrscheinlich für alle Zeit. Und nun war keine Rede mehr davon, weder von dem rückwärtigen Trakt noch den beiden wegweisenden Plastiken. Vielleicht später einmal!, war dem Künstler gesagt worden, später, wenn Geld da ist.

    Die Eingangshalle des Schulzentrums Poggenreich diente zu Beginn und Ende von Ferien dazu, die Kinder zu versammeln und sie zu Fleiß und Ordnung zu ermahnen, und an Regentagen konnte sich die Jugend hier um gläserne Vitrinen herum austoben. In den Vitrinen waren seit nunmehr viereinhalb Jahren Jägerstühle ausgestellt, aus Streichhölzern gefertigt. Der Werklehrer war inzwischen nach Einbeck an die Hochschule berufen worden, der gab jetzt Werkblätter heraus über die Verwendung von Streichhölzern im Unterricht. Vielleicht würde ein neuer Werklehrer, der freilich noch nicht in Sicht war, eines Tages fünfundzwanzig Kon-Tiki-Flöße für diese Vitrinen, die an sich ziemlich im Wege standen, anfertigen lassen.

    Im übrigen konnte der aufsichtführende Lehrer von der Halle aus, wie in einem Gefängnis, beide Gebäudeflügel gleichzeitig überblikken, und es war immer wieder von Reiz, nach dem Pausenklingeln alle Türen gleichzeitig sich öffnen zu sehen, aus denen dann brüllend Jugend stürzte. Die Schüler hätten ja eigentlich nachdenklich schreiten sollen, das soeben Aufgenommene nachklingen lassend, damit es die Seele anreichert und das Gehirn ertüchtigt zu großem Vollbringen, aber so war es nun einmal, Jugend brüllt: Dafür muß man Verständnis haben.

    Der kleine muskulöse Rektor stand also im Scheitelpunkt der Schule und sah die Hartriegelallee hinunter auf den Außenvorplatz der Schule, die Stelle, auf der die Plastik«Jugend»hätte stehen sollen, der als Parkplatz diente: Das Gesträuch auch mal wieder schneiden lassen.
    Nun gesellte sich der Junglehrer Frohriep zu ihm, der Unglücksmensch, der heute«hingerichtet»werden sollte, Harry Frohriep, ein rötlicher Typ mit Adamsapfel – unehelicher Sohn einer Hebamme und nun im zweiten Jahr seiner Ausbildung. Er hatte soeben seinen Klassenraum noch ein letztes Mal inspiziert, ob das Goethe-Bild über der Tafel auch gerade hängt, Tafellappen und so weiter, ob alles ebenso in Ordnung ist wie sein Haar, das er am Tag zuvor hatte beschneiden lassen.

    Inzwischen trafen von allen Seiten die Junglehrer des Kreises ein, auf Fahrrädern, Motorrädern und in alten Autos. Kollege Färsel sogar in einem hellblauen Mercedes, dessen Klappern hinten links sich nicht abstellen ließ, obwohl der Wagen wieder und wieder in der Werkstatt stand. Vor einigen Monaten hatte er in seiner Vorführstunde die Flüsse an der Wandkarte«Mitteleuropa physikalisch»mit dem Zeigestock entgegen der Fließrichtung abgefahren, das hing ihm noch an.

    Junglehrer Frohriep wurde hinuntergeschickt auf den Parkplatz, er soll seinen Kameraden sagen, daß sie sich auf der linken Seite sammeln sollen, nicht rechts, wie sie sich gerade anschicken, es zu tun, die

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