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Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot

Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot

Titel: Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Lascaux
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die man von Kornkreisen her kannte. Nicht wenige Teigkreationen ähnelten dem, was man aus prähistorischen Felszeichnungen als Phallussymbole zu erkennen glaubte. Die Deutung unbekannter Zeichen wurde durch regelmäßigen Absinthe-Nachschub erheblich gefördert, nicht immer zum Entzücken ihrer Erzeuger. Bald war man untereinander gut bekannt, und F. K. Swiss und seine Crew, die anfangs noch exotisch gewirkt hatten, versanken in einer überraschenden Normalität, als die Begeisterung in Entzückensschreien gipfelte.
    Dann bat der Bäckermeister um Ruhe. »Jeder legt nun seine Figur auf ein Blech. Rund herum fünf Zentimeter Abstand einhalten. Diejenigen auf den beiden Blechen rechts von mir werden mit Ei bestrichen, werden goldgelb gebacken. Die andern kriegen eine Krustenrinde.«
    Ein Ameisenhaufen wäre einem Außenstehenden als durchorganisierter Organismus aufgefallen im Vergleich zu dem, was er in der Backstube erblickte. Nur langsam kehrte Ordnung ein, und vier Backbleche wanderten in die auf 220 Grad geheizten Öfen. Draußen hatte inzwischen die Dunkelheit das Quartier übernommen. Im aufsteigenden Dampf hätte man die Hexen sehen können, wie sie sich auf ihren Ritt zum nächsten Festplatz an erhöhten Orten bereit machten und ihre nackten Körper mit der Salbe einstrichen, die ihnen den nächtlichen Flug ermöglichte.
    Nicole Himmel stand ebenfalls draußen. Sie begab sich zum Gedankenreiten. Sie war aufgeregt und gespannt auf ihr Gebäck. Die Nervosität tat ihr gut. Die Hände bewegten sich unruhig, die Schultern waren leicht hochgezogen, Lippen und Wangen in aufgeregtem Rot, die Augen dunkel und tief.
    Von unten zuckelte der Südstaatenbass, und Dr. Johns rauchige Stimme übertönte die aufgeregten Gespräche. Als Nicole wieder hinunterstieg, war die Sicht vom einen Ende des Raums zum andern von einem leichten Nebel getrübt. In diesem Moment öffnete Andreas Bohnenblust die Backöfen und zog sorgsam Blech um Blech der knusprig gebackenen Brötchen heraus. Die magische Verwandlung einfacher Zutaten in ein komplexes Lebensmittel war das Glück des Bäckers, und man sah ihm an, dass er eine unbezähmbare Freude über den ganzen Anlass und das wild gemischte Publikum empfand.
    Auf dem massiven Holztisch in der Mitte der Backstube wetteiferten keine Eulen und Meerkatzen um die Aufmerksamkeit des Publikums, sondern Hunde und Katzen, ein Pferd und eine Kuh, eine kleine Ziegenherde, ein Stück Emmentaler Käse, dessen Löcher sich durch das Backen geschlossen hatten, eine Wurst und Brot.
    »Brot?«, wunderte sich Andreas Bohnenblust. »Wer hat Brot aufs Blech gelegt?«
    Blütenblätter fürchteten sich vor einer Schere, aus der Form geratene Kreise hatten sich miteinander zu einer Kette verbunden, aber in all dem Durcheinander gelang es einem jeden, sein Backgut an sich zu nehmen. Sogar das Brot verschwand.
    Es blieb nur ein einziges Stück übrig. Am Rand des dritten Blechs lag ein Gegenstand ähnlich einem keltischen Dolch. Statt einer filigranen Verzierung stand der Name Heinrich in runenartigen Lettern auf der Rinde.
    »Detektiv, komm her!«, rief der Bäcker. »Da hat dir jemand ein Geschenk gemacht.«
    Müller bahnte sich einen Weg durch die Leute und griff nach dem Gebäck. Offenbar war auch eine Bruchstelle eingearbeitet, denn statt des Dolchs hielt er zwei Teile in den Händen. Aus der Bruchkante ragte ein Zettel. Er klebte zwar leicht am Teig, Heinrich konnte ihn trotzdem herausziehen. Die Nachricht zerbrach durch die Trockenheit in drei Fetzen, die man jedoch gut nebeneinander legen konnte.
    ›GNADENBROT‹, stand in gebräunter Blockschrift auf dem Blatt. Die Buchstaben leicht verschwommen. Es handelte sich wohl um ein Fließblatt, das feucht in den Teig eingeschoben worden war, damit es nicht zerfiel oder gar verbrannte.
    Der Detektiv drehte die Fragmente um und las: »›Wer sich in die Tiefen der Geschichte begibt, wird an seiner Neugier zugrunde gehen.‹«
    »Weißt du, was das bedeutet?«, fragte der Bäcker, der sich ebenfalls über den Tisch gebeugt hatte. »Das hat bestimmt dieser gruselige Typ mit dem Zylinder hinterlassen.«
    »F. K. Swiss?«, fragte der Detektiv.
    »Nein, der andere. Wo ist er?«
    Der Mann war, obwohl derart auffällig, aus der Menge verschwunden, ohne Aufsehen zu erregen. Auch erinnerte sich keiner daran, wie er ausgesehen hatte. Mantel und Hut übertünchten jedes Detail.
    Die meisten Anwesenden waren in Diskussionen über ihre Gebäckkreationen vertieft, nur Nicole

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