Heldenwinter
die Lippen bemalt, um sich ihre Küsse zu erschleichen. Wieso ich das sage? Weil ich meinte, meine Strafe verbüßt zu haben, als endlich, endlich der Morgen kam, an dem man meinen Käfig zurück auf den Boden der Halle holte. Dabei war sie noch lange nicht verbüßt. Noch lange nicht.
Der Mann in Weiß trat an meinen Käfig. »Weißt du jetzt, was Hunger ist?«, fragte er, die Schändung eines gütigen Lächelns auf den Lippen.
Ich nickte nur, weil Tränen mir die Stimme erstickten, und ich empfinde nur Abscheu für mich, dass es Tränen der Dankbarkeit waren. Sicher war er gekommen, um mich zu erlösen.
»Gut«, sagte der Mann in Weiß. »Du hast genug gehungert.«
Er griff in den weiten Ärmel seiner Robe und holte daraus das hervor, was zu meiner ersten Speise nach so langer Zeit werden sollte. Er warf es mir in den Käfig, und angesichts der Aussicht, meinem Hunger zu entfliehen, flutete neue Kraft durch meine Glieder. Ich stürzte mich auf das, was da vor mir landete, und schlug die Zähne hinein. Fetzen für Fetzen riss ich los und schlang sie in mich hinein. Ich lachte. Leckte mir das Blut von den Fingern. Knackte die Knochen und saugte das Mark aus. Ich schluchzte glücklich.
Es scherte mich nicht, dass es eine tote Ratte war, die ich da fraß.
Nachdem ich mein Mahl beendet hatte, teilte mir der Mann in Weiß mit, dass ich meines Lehens enthoben war und der König einen neuen Herrn für meine Ländereien bestimmt hatte. Ich empfand keinen Verlust, nur Freude über das Rumoren in meinem Bauch, die wohligen Krämpfe meines Magens.
Der Mann in Weiß eröffnete mir, dass es jemanden gab, der seit meiner Gefangennahme jeden Tag vor den Toren des Palasts auf mich gewartet hatte. »Deine Amme scheint eine tapfere Frau zu sein. Ich überstelle dich gern in ihre Obhut, weil es mir stets eine Freude ist, die vermeintliche Tapferkeit anderer einer schweren Prüfung zu unterziehen. Du wirst sehen, wie tapfer dieses Weib tatsächlich ist, sobald ihr beide begreift, worin deine eigentliche Strafe liegt.«
Mit diesen Worten ging er, und die Wachen zerrten mich aus der Halle und aus dem Palast.
Der Mann in Weiß hatte nicht gelogen: Dort wartete Ammorna auf mich. Ich brach in ihren Armen zusammen. Sie legte mir Kleider und eine meiner alten Rüstungen an. Es war, als wäre ich wieder der kleine Junge, der zu ihr gerannt kam, wenn sein Vater ihn wegen eines umgestoßenen Bechers oder seiner Angst vor dem ausgestopften Bären im Trophäensaal gescholten hatte. So hilflos war ich. Ohne sie wäre ich nicht hier. Ohne sie wäre ich irgendwo in den Elendsvierteln der Hauptstadt gestrandet. Halb wahnsinnig und halb verhungert, wie die meisten Leute dort.
Ammorna ist in Silvretsodra geboren, und sie hatte viele Freundschaften geschlossen, ehe sie als Jungfrau ins Kloster gegangen war. Nun forderte sie einen Gefallen ein, den ihr ein Mann seit vielen Sommern schuldete. Als einer der Verwalter des königlichen Fuhrparks besorgte er uns einen alten Wagen, den Arvid nicht vermissen würde.
So traten wir die Heimreise an, obwohl ich doch eigentlich kein Zuhause mehr hatte. Dann kam der Sonnenuntergang und mit ihm die Offenbarung, welche zweite Strafe der König und sein ruchloser Berater mir zugedacht hatten. Ich erfuhr am eigenen Leib, was es heißt, eine Ratte zu sein, und ich erfahre es noch immer jede Nacht.
»Das ist eine tränenreiche Geschichte«, sagte Dalarr misstrauisch, nachdem der Graf ohne Land geendet hatte. »Ein Dichter sollte eine Tragödie für die Bühne daraus machen. Ich fände es allerdings gut, wenn er die Lücken darin schließen würde.«
»Wie ich sehe, haben dich all die Sommer noch immer keinen Anstand gelehrt«, erwiderte Ammorna anstelle ihres Schützlings.
»Ich bin nun mal ein sturer Schüler.« Diese Eigenschaft hatte er ansonsten mit Vorliebe Namakan zugeschrieben.
»Ich kann ihn verstehen«, mischte sich Morritbi ein und wandte sich an Kjell. »Du bist angeblich deines Lehens enthoben. Trotzdem haben wir dich in Tanngrund Korn verteilen sehen. Wie geht das zusammen?«
»Mein Titel ist mehr als mein Lehen«, sagte Kjell ernst. »Das Land mag mir nicht mehr gehören, doch was für ein Mann wäre ich, wenn ich darüber die Leute vergessen würde, die auf und von ihm leben? Und ich kann mit Stolz sagen, dass einige dieser Leute mich nicht vergessen haben.« Er straffte die Schultern. »Mehr als ein Müller öffnet seinen Speicher für mich, wenn ich ihn darum bitte. Und die, die es nicht
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