Heldin wider Willen
… wie immer das auch funktionierte. Esmay kam auf kein Äquivalent, das auf den Rumpf eines Schiffes im Hyperraum anwendbar
gewesen wäre, also kroch sie einfach weiter.
Eine abrupte Veränderung der für sie erkennbaren To—
pographie erwies sich als Kante in den Abgrund zwischen T-3und T-4. Esmay zerbrach sich den Kopf darüber, in welche Richtung es jetzt weiterging. Hinunter zu den unteren Decks in der Falte zwischen T-3 und dem Kern? Weiter die Oberseite von T-3 entlang? Sie wusste nicht mal, ob die großen Greifarme um die Wraith geschlossen waren oder ob das Schiff in den Sprung gegangen war, während die Reparaturbucht zur Dunkelheit
offen stand.
Wie eine Antwort auf ihre Fragen wurde es in der Dunkelheit dort draußen wieder hell. Zumindest vermutete Esmay, dass es Licht war, weil ihre Augen darauf reagierten und weil ihr Gehirn das, was sie sah, zu den erwarteten Formen zu gestalten versuchte. Es sah seltsam aus, mehr nach hellem,
dahinwehendem Rauch als nach Licht, dicke Ströme, die zu loseren Strängen ausfransten, während Esmay hinsah – aber sie gewann den Eindruck, irgendeine eckige Masse gleich links von sich zu sehen, mit hoch aufragenden Büschen darüber. Weiter entfernt verlief sich eine unregelmäßige rote Lichtspur, eine schlecht gepflügte Furche in der Ferne.
Alle hatten angehalten und drängten sich jetzt aneinander, damit sich die Helme berührten. »Falls ich Physiker wäre«, 519
sagte Seska, »könnte ich glatt verrückt werden. Das meiste von dem, was wir seit Einleitung des Sprungs gesehen haben, passt nicht zu dem, was man uns über den Überlichtflug beigebracht hat. Aber da ich nur ein Schiffskommandant bin, sage ich, dass es wunderschön aussieht.«
»Die Greifbrücken stehen offen«, sagte Esmay. »Die Reparaturbucht steht offen. Falls es dort nicht irgendein Hindernis gibt, von dem ich nichts weiß, müssten wir auf diesem Weg hineinkommen.«
»Warum haben sie die Lichter gerade jetzt eingeschaltet?«, wollte Frees wissen.
»Man hat wohl gerade die Energienotversorgung aktiviert«, sagte Esmay. »Die Bluthorde hält die Brücke –wahrscheinlich haben sie von dort die Stromzufuhr zu den Flügeln
unterbrochen, vielleicht sogar die Lebenserhaltung, aber jeder Flügel verfügt über eigene Systeme, die ihn praktisch wie ein Schiff unabhängig machen.«
»Also wandern wir einfach hinüber und springen in eine
dieser Öffnungen?«
»Nur, falls wir nach einer 1-g-Beschleunigung sechzehn oder siebzehn Decks tiefer aufprallen möchten. Vielleicht können wir an den Beinen der Greifarmbrücken hinunterklettern …« Sie war nie auf den Greifern gewesen, hatte aber schon andere dort herumklettern gesehen. Das Problem war nur … würden die
eigenen Freunde sie gleich erschießen oder ihnen erst
Gelegenheit geben, zu erklären, wer sie waren?
»Unser Helmfunk müsste dort drin funktionieren«, meinte
Seska. »Und vielleicht sehen sie uns nicht gleich.«
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Der Weg über die Decke von T-3 bis zur ersten Öffnung war leichter als das letzte Wegstück über die Kuppel, wies aber doch eigene Schwierigkeiten auf. Das glücklose Licht, das aus den Öffnungen davonströmte, erhellte nichts, was auf dem Weg der Gruppe gelegen hätte, und das war eine Menge. Die
abgeschnittenen Befestigungen des Transportgleises … Kabel, die der Abstützung der Greifer dienten, Gegengewichte der Mechanismen, die die Greifer hoben oder senkten …
Wenigstens war immer etwas in der Nähe, um Sicherungsleinen anzuklemmen.
Im Normalbetrieb erfolgte der Personalzugang durch
glockenförmige Öffnungen, jetzt eindeutig im Lichtschatten der gewölbten Träger gelegen. Die Gruppe folgte vorsichtig dem Rand einer Öffnung, und das Licht wechselte die Farbe, als sie neben ihm waren. Selbst die wenigen zig Meter lichtaufwärts …
waren einfach zu blau, und wenn man den Kopf drehte, wurden sie rot.
Der Personenliftschacht befand sich genau an der Stelle, an die sich Esmay auch erinnerte. Ganz tief unten, die Steuerung verriegelt. Esmay erkannte eine Sektion der Wraith mit abgenommener Außenhaut und einem Haufen Arbeitern in
Raumanzügen; sie drängten sich um ein Kristallbündel, das vorne und achtern jeweils über das Blickfeld hinausreichte.
Zumindest bot sich jetzt die Bequemlichkeit einer Nische unterhalb der Rumpflinie, eine Plattform, groß genug für zwanzig oder mehr Arbeiter, die dort stehend auf den
Personenlift warten konnten. Esmay machte sich an den Abstieg über die zehn
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