Herr Klee und Herr Feld | Roman
Gettos verließen, um ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Außer dem Beamtentum und der Offizierslaufbahn standen ihnen fast alle Berufe offen, sie konnten den Status des Bürgers erlangen, Grundbesitz erwerben und Unternehmen gründen. Wie in den vielen Fürstentümern des zersplitterten Reiches hatte man auch hier in Bayern erkannt, dass die Juden den Herrschenden durch ihr Talent und ihre Strebsamkeit von Nutzen sein konnten. So begann auch der Aufstieg der Familie Kleefeld, als sie aus dem Umland in den Marktflecken Zirndorf bei Fürth zog.
Hier war die erste Eisenbahn gefahren, hier begann die Industrialisierung. Brauereien, Spielwarenfabriken, Textilmanufakturen wurden gegründet, die nicht selten jüdische Eigentümer hatten.
Die Brüder Gabriel, Moses und Jakob Kleefeld wurden erfolgreiche Kaufleute und Viehhändler, heirateten Henriette, Klara und Caroline, wohlerzogene Töchter aus jüdischem Hause, und bekamen Kinder. Zu Beginn des 20 . Jahrhunderts waren sie angesehene Bürger der aufstrebenden Stadt Zirndorf und saßen im Gemeinderat.
All dies lernten die Kleefelds durch die rührige Frau Rose, die sich intensiv mit der Familiengeschichte der Kleefelds befasst und sogar einen Stammbaum der Familie aufgezeichnet hatte. Sie stand neben Alfred und Moritz in der Leichenhalle vor einer Gedenktafel, in die die Namen aller im Holocaust ermordeten jüdischen Bürger der Stadt eingraviert waren. Unter dem Buchstaben »K« befanden sich etwa fünfzehn Personen, die Kleefeld hießen, darunter auch der Name Louis Kleefeld.
Ihr Vater, sagte Frau Rose.
Alfred und Moritz sahen sich kurz an.
Ja.
Sie faltete den Stammbaum auseinander und legte ihn auf einen Tisch, wo ein Gedenkbuch aufgeschlagen lag, für die wenigen Besucher, die an diesen Ort kamen.
Moritz beugte sich über die Aufzeichnungen und las:
Louis Kleefeld, geboren 1890 in Zirndorf, heiratete Barbara, geborene Petersen, geboren 1904 in Altona, zwei Söhne, Moritz, geboren 1935 in Frankfurt am Main, und Alfred, geboren 1938 ebenda. Moritz heiratete Fanny, geborene Trindel, geboren 1944 in Antwerpen!
Er schaute Frau Rose an.
Chapeau, sagte er, woher wissen Sie das alles?
Alte Stammbücher, Register, Internet. Wenn man sich für etwas interessiert, findet man es heraus.
Alfred war in der Zwischenzeit ein wenig in der Halle herumgelaufen, ließ den hellen, schönen Raum auf sich wirken und machte ab und zu ein Foto mit seiner Lumix.
Das ist ja alles stilecht, jedes Detail, hörte man ihn von hinten rufen.
Ich will nicht unbescheiden sein, sagte Frau Rose, aber das ist mein Werk.
Tatsächlich?
Ich bin den Politikern, den Sponsoren und den jüdischen Organisationen jahrelang auf den Wecker gegangen. Die haben mich verflucht. Das war eine Ruine und der Friedhof ein Trümmerfeld. Das wäre alles unwiederbringlich weg gewesen. Aber am Ende habe ich es geschafft. Ich denke, dass sind wir den Juden von Zirndorf schuldig.
Die Juden von Zirndorf, sagte Moritz, ist das nicht ein Roman von Wassermann?
Genau, sagte Frau Rose, es ist die Geschichte des Sabbatai Zwi.
Es dämmert. Dieser falsche Prophet. Er hat die Leute aufgefordert, ihm ins Heilige Land zu folgen.
Ja, bestätigte die Frau, es folgten ihm auch die Juden aus der hiesigen Gegend und gingen ins Verderben. Aus Zirndorf, Fürth und Nürnberg.
Das war während des Dreißigjährigen Kriegs. Hunger, Not, Epidemien, da sind viele Menschen durchgedreht und haben nach jedem Strohhalm gegriffen. Da hatten Scharlatane leichtes Spiel.
Ist er nicht am Ende zum Islam konvertiert?, fragte Alfred.
Ja, sagte Frau Rose.
Diese Konvertiten, das sind die Schlimmsten!
Ich bin zum Judentum übergetreten, meinte Frau Rose herausfordernd.
Alfred war das unangenehm.
Äh, also ich wollte Sie nicht …
Ich bin das gewöhnt, sagte die Frau, ich habe ein dickes Fell, denn ich bin aus Überzeugung Jüdin geworden und nicht wegen einer Heirat. Mein Mann war Christ. Auch mein Sohn ist kein Jude. Ich habe die Religion nicht gesucht, sie hat mich gefunden. Ich war lang in Israel, ich spreche Hebräisch, ich habe den Talmud studiert, ich bin religiös und führe einen koscheren Haushalt.
Ich auch, sagte Moritz stolz, so als hätten beide ein seltenes gemeinsames Hobby. Wie Schneekugeln sammeln.
Gehen wir mal raus?
Der verwunschene Friedhof war liebevoll hergerichtet, selbst die alten Grabsteine, zum Teil noch aus dem 18 . Jahrhundert, waren restauriert, entmoost, die Namen der Verstorbenen
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