Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
abwärts ging und man im Grunde die meiste Zeit bloß dasitzen und den Kopf einziehen musste.
Wie oft hatte der Fickel als Kind und später als Erwachsener mit hochgelegten Beinen auf der Couch gelegen, Internationale Friedensfahrt [ 12 ] geglotzt und sich sadistisch daran delektiert, wie das Peloton in einem unbarmherzigen Tempo die steilen Rampen erklomm! Aber die meisten Dinge, die man im Fernsehen schätzt, möchte man in der Realität eher nicht erleben. Zumal der Fickel von Anlage und Statur her ohnehin kein Bergfloh ist, sondern doch eher den Sprintertyp repräsentiert.
Die Serpentine schien sich auf mysteriöse Weise selbst zu verlängern. Im Rausch seines mit Sauerstoff unterversorgten Hirns fiel dem Fickel ein, dass er mal gelesen hatte, das Universum sei an seinen Rändern gekrümmt. Aber dass ausgerechnet Meiningen am Rande des Universums lag, davon hatte man noch nie etwas gehört! Fickels Waden wurden langsam hart, die Knie dagegen weich. Er pumpte wie ein Maikäfer im Juni. Endlich, nach qualvollen Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, hatte er die Kammlinie erreicht, und man kann ohne Übertreibung sagen, spätestens nach diesem Husarenritt war der Fickel wieder stocknüchtern, weshalb er für alles Nachfolgende keine mildernden Umstände für sich geltend machen kann.
Als er endlich wieder Herr seiner Sinne war, versuchte der Fickel, sich in der Finsternis zu orientieren. Das Weingartental schien wie ausgestorben. Von den Grillplätzen vor den Häusern und Villen stieg nur noch vereinzelt Rauch auf, irgendwo in der Ferne spielte jemand einsam Partymusik. Das wäre jetzt natürlich wieder typisch gewesen: die ganze Tortur für nichts und wieder nichts!
Doch als der Fickel sich dem Garten der Driesel näherte: Entwarnung. Das Blockhaus, in dem die Amtsgerichtsdirektorin seit vielen Jahren residierte, war so hell erleuchtet, als fände darin gerade ein Auftritt des MDR -Fernsehballetts statt. Als der Fickel zufällig durch die Scheibe linste, sah er zu seiner Überraschung überall nur Blumentöpfe mit kleinen zarten Pflänzchen. Geradezu wie in einem Gewächshaus.
Eine spitze Bemerkung konnte sich die Driesel natürlich nicht verkneifen, als plötzlich der Fickel vor ihrer Tür stand, abgekämpft, mit glänzender Stirn und ziemlich intensiv nach Schweiß duftend: »Je später der Abend …«
Aber ehe die Sprache auf das Eigentliche kam, musste der Fickel die jungen Weinreben bewundern, denn um nichts Geringeres handelte es sich bei den Pflanzen, die im Wintergarten, in der Diele und im Flur herumstanden. »Die Zukunft der Weinbauregion Meiningen«, erklärte die Driesel pathetisch, und obschon der Fickel im Grunde seines Herzens selbstredend Biertrinker ist, blieb ihm im Moment gar nichts anderes übrig, als seine alte Kollegin für ihre Kenntnisse über Riesling, Scheurebe, Silvaner und Müller-Thurgau zu bewundern. Eigentlich gehörten die Setzlinge längst in die Erde, aber die Bodenarbeiten am Weinberg hatten sich verzögert. Heute hatte die Driesel eigentlich damit beginnen wollen, die Pflanzen zu setzen, als sie der geharnischte Anruf der Oberstaatsanwältin aus ihrem Winzeridyll gerissen hatte. An dem Punkt wollte der Fickel natürlich sofort einhaken, doch die Driesel zog ihn gleich in ihre »gute Stube«. Fickels erste Reaktion war: Schock. An den Wänden war jeder freie Quadratzentimeter mit kleinen Souvenirtellerchen und anderen Trophäen der Orte bestückt, die sie seit 1990 mit Studiosus-Reisen besucht hatte: von Sylt bis zum Zillertal, von Los Angeles bis Sankt Petersburg. Ansonsten war die Einrichtung ganz im Look des VEB -Möbelkombinats Zeulenroda gehalten: Eine dreiteilige Schrankwand mit Vitrine bildete das Kernstück, davor ein höhenverstellbarer Glastisch mit Handkurbel, flankiert von zwei Plüsch-Ohrensesseln mit farblich abgestimmter Couchgarnitur. Vor den Fenstern hingen hellgrüne Kunstfaservorhänge, die jedem SED -Parteibüro zur Ehre gereicht hätten. Und wirklich hatte die Driesel einen Teil ihrer Ausstattung Anfang der neunziger Jahre bei der letzten Sperrmüllaktion des Amtsgerichts abgestaubt. Ob die Driesel einfach zu geizig oder zu bequem gewesen war, sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre neu einzurichten – jedenfalls war dem Fickel schlagartig klar, warum sie mit ihren fünfundsechzig Lenzen immer noch solo war, manche behaupten sogar: Jungfrau. Aber diejenigen, die das sagen, die kennen das Studentenwohnheim in Jena nicht.
»Wollen Sie mal
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