Herzstück mit Sahne: Roman (German Edition)
an ihrem Knie, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Federkopfputz fällt zu Boden. Jewell, die doch sonst so eitel ist, macht keine Anstalten, ihn aufzuheben, obwohl die kühle Nachtluft jetzt ihr spärliches Haar zerzaust.
»Jewell?«, sage ich leise und wiederhole dann lauter: »Tante Jewell?« Ich rüttle sie ein bisschen, aber sie reagiert nicht.
Der Hund hört auf, an Jewell herumzuscharren, wirft den Kopf in den Nacken und heult so laut und herzzerreißend, dass das muntere Partygeplapper schlagartig verstummt. Die Laute sind markerschütternd und urtümlich, und sie künden von großen Weiten und schmerzhafter, unerträglicher Einsamkeit.
Oh mein Gott. Was haben Gabriel und ich getan?
Guy, der eine Ausbildung als Feuerwehrmann, Sanitäter und weiß der Himmel was sonst noch hat, ist sofort zur Stelle. Mit einer Behutsamkeit, die man gar nicht von ihm kennt, nimmt er mit seinen großen Pratzen Jewells knochiges Handgelenk und berührt sanft ihren Hals. Aber ich weiß auch ohne sein Kopfschütteln, was geschehen ist.
Entsetzen und Aufregung, gemischt mit morbider Faszination, ergreifen Besitz von den Gästen. Schreckenslaute und erregtes Gemurmel sind zu vernehmen, und jemand beginnt zu weinen.
Meine Knie fühlen sich an wie Pappmaché. Ich könnte Ollie nicht mal mehr nachlaufen. Erstarrt und vollkommen fassungslos stehe ich da, und alles scheint wie in Zeitlupe abzulaufen.
Mein Mund ist so ausgetrocknet, dass ich nicht sprechen kann.
Das gilt leider nicht für James. Er tritt zu mir und blickt auf die bedauernswerte Jewell. Dann raunt er so leise, dass nur ich es hören kann: »Sieht aus, als habe sich deine finanzielle Situation gerade beträchtlich verbessert.«
Ich stehe zitternd in dem Raum, der mir von Sekunde zu Sekunde leerer vorkommt, und starre ungläubig auf Jewell, die in Guys Armen liegt.
Draußen vor dem Haus wird eine Autotür zugeschlagen, und ein betagter Motor erwacht stotternd zum Leben. Dann röhrt er laut auf und wird schließlich immer leiser.
Es ist alles aus. Ollie fährt weg und verschwindet aus meinem Leben, weil er glaubt, dass ich mich für Gabriel entschieden habe.
Jewells Haus mag voller Menschen sein, aber ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie einsamer gefühlt als in diesem Moment.
20
E igentlich liebe ich den Herbst. Er bedeutet für mich behagliche Stunden auf dem Sofa, Marmelade aus wilden Brombeeren kochen, neue Federmäppchen für die Schule und die erfreuliche Gelegenheit, meine voluminöseren Körperteile unter riesigen Pullis zu verstecken. Ich mag den rauchigen Geruch von Lagerfeuern und die grauen nebligen Tage und freue mich immer darauf, mit neuen Winterstiefeln durch welkes Laub zu streifen. Aber in diesem Jahr ist alles anders. Das ganze Leben erscheint mir wehmütig, obwohl der September erst begonnen hat. Die Blätter im Wind, der blaue Rauch der Holzfeuer, die kahlen Felder – in diesem Jahr finde ich es einfach nur trist und traurig.
Es ist Vormittag, und ich sitze mit einem großen Kaffeebecher in Händen auf der Treppe vor dem Pfarrhaus in Tregowan und blicke aufs Dorf hinunter. Die Sonne hängt rot wie eine Blutorange am zinngrauen Himmel, die Luft ist schlagartig frostig geworden, und die Möwen auf den Dächern drängen sich Schutz suchend aneinander. Es ist ein trüber Tag, und das ist mir durchaus recht, denn ich bin auch trüber Stimmung.
Um zwei Uhr wird Jewells Bestattung stattfinden. Ich könnte es, glaube ich, nicht ertragen, wenn es heute strahlend sonnig wäre – das fände ich nicht richtig, weil aus meinem Leben jeglicher Glanz und jegliche Freude verschwunden sind. Ich möchte King Lear im tosenden Unwetter sein und Catherine Earnshaw, die in den Regen hinausläuft und für die Liebe stirbt.
Ich will, dass die ganze Welt mit mir trauert.
Ich atme in tiefen Zügen die kalte Luft ein, wende das Gesicht der fahlen Sonne zu und sehe meinen Atemwolken nach, die gen Himmel steigen. Ich frage mich, ob sie irgendwann an Jewell vorübertreiben werden. Ob meine Tante sie dann wohl erkennen wird?
Wie unbegreiflich der Tod doch ist. Wie kann jemand im einen Augenblick noch da und im nächsten für immer verschwunden sein? Und was wird aus jenem Teil, der einen Menschen ausmacht? Ich versuche das Ganze mit dem Verstand zu verabeiten, aber es will mir nicht recht gelingen. Ich meine, wem soll ich Glauben schenken? Richard würde mir weismachen wollen, dass Jewell irgendwo mit einer Harfe in Händen herumschwebt. Mam glaubt, dass
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