Hexenblut
hervor, sprang von Amandas Bett auf und lief hin und her. Am Fenster blieb sie stehen und schaute zu ihrem kleinen Sohn hinaus, der in eine weiche Decke gewickelt an der breiten Brust seines Großvaters schlief. Tommy ging neben Richard her, und die beiden unterhielten sich ernst. Immer wieder blickten sie zum Haus Moore zurück, beinahe so, als wüssten sie, dass es bei Nicoles und Amandas Gespräch um Leben und Tod ging.
Owens Tod. Ihr Kind, ihr Baby... Ihr Herz hörte gar nicht mehr auf zu rasen. Sie war nicht sicher, ob ihre Füße noch den Boden berührten.
»Das Buch ist voller Prophezeiungen«, sagte Amanda sanft, aber bestimmt und wies auf das alte Manuskript. »Merlins Prophezeiungen. Und viele davon haben sich erfüllt.«
Amanda hatte gegen die Stimme angekämpft und gewonnen. Sie hatte ihr Geheimnis offenbart, obwohl es so schmerzlich war. Sie mussten sich der Prophezeiung stellen.
Sie mussten sich damit befassen.
Mussten entscheiden, was sie tun sollten.
Tränen liefen Nicole übers Gesicht. »Nein, du irrst dich. Merlin ist ein Mythos. Das ist ein Trick. Die Prophezeiungen sind nicht echt.«
»Niki, es tut mir so leid«, entgegnete Amanda. »Aber ...« Sie verstummte, als könnte sie es nicht ertragen, den Satz zu vollenden.
»Aber Amanda, das ist Owen.« Nicoles Gesicht verzerrte sich, und sie konnte sich kaum mehr zusammenreißen. Allmählich ergab sie sich ihrer Angst. Wenn sie zusammenbrach, würde Amanda sich um sie kümmern müssen, und das würde ihre Zwillingsschwester vielleicht lange genug ablenken, damit... damit was?
Nein. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Owen war auf sie angewiesen.
»Das ist Owen«, würgte sie hervor. Alles in ihr war verkrampft vor kaltem Grauen - Knochen, Blut und Seele.
»Ich weiß.« Amanda ließ den Kopf hängen und begann zu weinen.
»Du hast selbst gesagt, dass dieses Haus böse ist. Und das da ist ein böses Buch.« Nicole hatte Mühe, die Worte herauszubringen. Der Kloß in ihrer Kehle erstickte sie beinahe. Am liebsten hätte sie das Buch genommen und aus dem Fenster geworfen oder es im Kamin verbrannt.
»Es ist das Buch von Merlin, einem der größten Zauberer aller Zeiten«, erwiderte Amanda. Sie stand auf und trat zu Nicole. »In dieser Nacht habe ich jemanden singen hören. Das war Owen, Niki. Ganz sicher.«
»Du hast auch gesagt, jemand hätte deine Hand gepackt. Und Owen hat tief und fest geschlafen.« Nicole stürzte sich auf dieses Argument wie eine Frau, die auf dem Galgen um ihr Leben fleht. »Er hat geschlafen. Das kannst du nicht abstreiten.«
»Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Aber...«
Nicole wirbelte herum. Amandas Gesicht war fleckig und geschwollen, so sehr hatte sie geweint. Der Anblick jagte Nicole Angst ein - es sah aus, als hätte Amanda alle Hoffnung aufgegeben.
»Und was ist mit den anderen Sachen?«, fügte Nicole hastig hinzu. Unwillkürlich hob sie die Stimme. »Er hat kein Mal hinter dem Ohr. Er hat nichts Unschuldiges getötet, und auch sonst nichts. Das hat er nicht, Amanda, gib es zu!«
Amanda zögerte, denn sie spürte Nikis verzweifelte Hoffnung. »Vielleicht stimmt das Buch nicht«, versuchte sie es, obwohl ihr dabei das Herz brach. Denn sie glaubte nicht, dass sich das Buch in irgendeiner Weise täuschte.
Owen töten? Ihren süßen kleinen Neffen? Ein Baby ?
Sie konnte sich nicht vorstellen, so etwas zu tun. Sie konnte sich buchstäblich nicht einmal in Gedanken dazu bringen. Wer könnte es? Ihr Vater - Owens Großvater? Tommy? Beide würden eher sterben. Vielleicht würden sie sogar die ganze Welt opfern, ehe sie ihrem Baby etwas antaten - denn er war jetzt ihrer aller Kind. Sie wussten zwar nicht, wer sein Vater war, aber Owen war von ihrem Fleisch und Blut.
Wir können das nicht.
Amanda kannte nur eine Hexe, die fähig wäre, ein Baby umzubringen, um den Zirkel zu schützen.
»Wo ist Holly?«, heulte sie laut auf.
»Nein«, hauchte Nicole. Sie wurde kreidebleich. »Sprich nicht mal von ihr. Bitte, Amanda.«
»Niki«, erwiderte sie. »Wenn es wirklich getan werden muss, dann...«
Auf einmal waren von draußen laute Rufe zu hören. Amanda stürzte zum Fenster, und Niki schleppte sich weinend hinterher.
Unten vor dem Haus hielt gerade ein weißer Opel Corsa an. Die Fahrertür ging auf, und Amanda stockte der Atem. Wenn das Holly war...
Aber sie war es nicht.
Kari Hardwicke stieg aus. Kari.
»Aber sie ist tot«, murmelte Amanda.
Nicole schnappte nach Luft. Eine schwarze Katze hüpfte
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