Hexenjagd
Doktor Lorenz mit ihrem Anliegen ausgerechnet jetzt kam – also mitten in der Nacht. Es musste ein Notfall sein, überlegte sie, während sie ihre wenigen Habseligkeiten in die Tasche packte, die man ihr auf das Bett gestellt hatte.
„Wir müssen Sie leider in ein Mehrbettzimmer einquartieren“, erklärte die Ärztin, sobald sie auf dem Flur standen. „Wir haben einfach keinen Platz mehr. Es tut mir Leid, aber es geht nicht anders.“ Den Oberarm ihrer Patientin mit einer Hand umspannend, dirigierte sie die junge Frau in eine bestimmte Richtung und blieb schließlich vor einer der Türen stehen.
„Nein.“ Celia wusste genau, wer in diesem Raum untergebracht war, und war versucht, auf der Stelle kehrtzumachen, um zu fliehen. Allein der Griff ihrer Gastgeberin hielt sie zurück, denn der war so fest, dass es wehtat. „Nicht da rein“, flehte sie. „Bitte. Wenn’s sein muss, schlafe ich im Badezimmer auf dem Boden, aber bitte … ich … Nicht hier rein!“ Während sie noch sprach, wand sie ihren Arm aus der schmerzhaften Umklammerung und tat einen großen Schritt rückwärts. Sie wusste, hier schlief Senta, die sie als Hexe beschimpft und dann an den Haaren gezogen hatte. Aber das war noch nicht alles! Hier war auch noch eine andere Frau untergebracht, die eindeutig verrückt war. Verrückt, ja! Und zwar so verrückt, dass sie sich schrill kreischend auf den Boden warf und sich selbst das Gesicht zerkratzte, sobald auch nur die kleinste Kleinigkeit vom gewohnten Tagestrott abwich. „Ich kann da unmöglich hineingehen. Ganz ausgeschlossen! Das geht einfach nicht.“
„Warum nicht?“ Rebekka stellte sich absichtlich begriffsstutzig. „Es ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Schlafraum. Außer dass darin noch zwei weitere Betten stehen, ist es nicht anders als Ihr altes Zimmer.“
„Aber da drin … da drin ist …“ Celia schluckte krampfhaft. „Sie können mich doch nicht mit lauter Verrückten zusammensperren!“ Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, wich sie immer weiter zurück. „Ich bin doch nicht verrückt!“ Sie konnte kaum noch ihre Stimme beherrschen. „Sie können mich doch nicht mit lauter Irren zusammentun!“ Sie machte Anstalten, einfach davonzurennen. Weil da aber eine verriegelte Tür war, die sich ohne Schlüssel nicht öffnen ließ, stieß sie einen verzweifelten Schrei aus. „Lassen Sie mich raus!“, verlangte sie. „Bitte“, verlegte sie sich aufs Betteln, als sie das Stirnrunzeln ihrer Begleiterin bemerkte. „Ich will hier raus. Ich bin doch nicht verrückt. Ihr müsst mich nicht einsperren. Ich bin nicht verrückt.“ Die heißen Handflächen auf das kühle Sicherheitsglas der Stationstür pressend, ließ sich langsam hinuntergleiten, bis sie auf den Knien anlangte, und sah mit tränenblinden Augen zu Doktor Lorenz hinauf, die mittlerweile näher gekommen war und nun direkt neben ihr stand. „Bitte“, flehte sie heiser. „Lassen Sie mich raus.“
„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte die Psychiaterin ruhig. „Es ist mitten in der Nacht. Ich kann Sie nicht hinauslassen, solange Sie mir nicht sagen können, wo Sie hingehen wollen.“ Sie wusste, sie bewegte sich jetzt auf einem sehr schmalen Grat. Dennoch wollte sie nicht nachgeben. Die Möglichkeit, dass Celiska durch einen heilsamen Schock zu ihrem wahren Ich zurückfand, war momentan weit größer als die Gefahr eines kompletten Rückzugs in eine selbst gewählte Isolation. „Sagen Sie mir, wohin Sie wollen, dann kann ich Sie vielleicht gehen lassen.“
Wohin? Ja, wo wollte, nein, wo sollte sie hingehen, fragte sich Celia unglücklich.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie endlich und schlug die Hände vors Gesicht. Nein, sie hatte keinen blassen Schimmer, wohin sie sollte!
„Wie heißt Ihre Mutter?“, fragte die Ärztin.
„Falquardt“, erwiderte die junge Frau prompt. „Renate Falquardt. Aber da will ich nicht hin. Sie würde mich genauso einsperren, wie ihr es tut. Nein, da will ich auf keinen Fall hin.“ Rebekka beschloss, dass es für dieses Mal gut sein sollte. Trotzdem geleitete sie Celiska nicht zu ihrem alten Zimmer zurück, sondern brachte sie in ein anderes, welches um einiges näher am großen Aufenthaltsraum lag. Dieser Raum sollte nicht abgeschlossen werden, hatte sie den Mitarbeitern aufgetragen. Auch wenn sie ein erhebliches Risiko damit einging, wollte sie ihren Plan nun zu Ende führen. Wann immer es ihren anderen „Gästen“ jetzt einfallen sollte, Celiska zu besuchen, konnten
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