Hexenkind
Montagabend geboten hatte, lohnte es sich, eine Weile auf einem kalten Stein zu sitzen.
Wieder kam er um halb acht aus dem Geschäft, wieder sah er in ihren Augen göttlich aus … aber diesmal trug er eine Einkaufstüte auf dem Arm. Sie sah die petersilieähnlichen Blätter von Stangensellerie aus dem Papier ragen. Zwei Flaschen Champagner hielt er in der rechten Hand. Um seine Haustür aufzuschließen, musste er sie absetzen.
Elsa fing an zu zittern. Sie konnte ihren Kiefer nicht mehr unter Kontrolle halten, ihre Zähne klapperten. Antonio
verschwand im Haus. Zwei Flaschen Champagner. Mit ihr hatte er immer nur eine getrunken.
Sie spürte förmlich, dass der Moment gekommen war. Dass die Frau, der er gleich das erste Glas reichen und zulächeln würde, nahe war. Sie bildete sich ein, ihren Duft zu wittern, ein schweres, süßes Parfum, das binnen kürzester Zeit dem Raum eine schwüle, erotische Atmosphäre geben würde, wenn er die Brokatvorhänge schloss.
Anders als ihre Düfte, mit denen man eher frische Sommerluft, blühende Wiesen und Leichtigkeit assoziierte. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ihre mädchenhaften Düfte vielleicht ein Fehler gewesen waren.
Ein warmer Wind kam in Sienas Straßen auf, der Abendwind, der fast jeden Sonnenuntergang begleitete und sich spätestens eine halbe Stunde nach dem Dunkelwerden wieder legte. Elsa kannte diesen Wind gut, in der Höhe von Montefiera war er so stark, dass er auf der Terrasse die Gläser vom Tisch wehte. Hier in den Straßen war er kaum zu spüren, aber Elsa bemerkte ihn, da er ihre Gedanken und Phantasien noch verstärkte. Sie schloss die Augen.
Beinah hätte sie den entscheidenden Moment verpasst, denn als sie ihre Augen Sekunden später wieder öffnete, sah sie die Frau, die auf Antonios Haus zueilte.
Das blassrote Kleid, das sie trug, kannte Elsa gut. Sie hatte es sich im vergangenen Sommer selbst einmal ausgeliehen, als sie zu einer Gartenparty bei einem Freund in Florenz eingeladen war.
Sarah klingelte. Die Tür öffnete sich sofort. Elsa erkannte Freude in Sarahs Gesicht, als sie im Haus verschwand.
Ihr Körper verkrampfte sich, ihre Finger krallten sich in die raue Steinwand der Nische, in der sie hockte. Sie starrte
auf die verschlossene Tür und war unfähig, sich zu bewegen. Ihre Fingerkuppen gruben sich in den Stein.
Mama, dachte sie, Mama, du Schwein.
Dann wurde ihr schwindlig, und sie fiel mit dem Gesicht vornüber.
Sie kam wieder zu sich, als eine alte Frau an ihrer Schulter rüttelte. »Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe, junge Frau?«
Elsa sah erschrocken auf. Sie brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo sie war und was geschehen war. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte gequält.
»Danke. Es ist alles in Ordnung. Danke.«
Überzeugt war die Frau nicht, doch sie ging davon und drehte sich noch ein paar Mal irritiert um.
Elsa stand mühsam auf. Als sie ihre Jacke zuknöpfen wollte, spürte sie den Schmerz. Ihre Fingernägel waren weg, ihre Fingerkuppen bestanden nur noch aus offenem Fleisch und an der Hausmauer zeigten sich Spuren von Elsas Blut.
54
Elsa war still, zurückhaltend und freundlich zu Sarah. Niemand in der Familie ahnte, was in ihrem Inneren los war.
»Was hast du denn mit deinen Fingernägeln gemacht?«, fragte Sarah eine Woche später. »Knabberst du neuerdings?«
Nur für einen Augenblick blitzte der Hass in Elsas Augen auf, dann hatte sie sich sofort wieder in der Gewalt und lächelte. »Was denkst du denn von mir? Nein, ich bin an einem Mauervorspung, an dem ich mich festhalten wollte, abgerutscht und hab mir die Finger aufgerissen. Sieht schlimmer aus, als es ist.«
Sarah nickte. Für sie war die Sache damit erledigt.
An diesem Tag war die Situation günstig. Sarah war im Casa della Strega, um in Ruhe zu meditieren und Yogaübungen zu machen. Seit einigen Monaten behauptete sie, sich durch ihre Yogaübungen Jahre jünger zu fühlen.
Elsa wusste, wodurch sie sich jünger fühlte. Durch Yoga sicher nicht. Sie ging davon aus, dass Antonio sie jetzt auch regelmäßig im Casa della Strega besuchte.
Romano saß vor dem Haus in der Oktobersonne und las die Tageszeitung »La Repubblica«. Elsa trat von hinten an
ihn heran und umarmte ihn. »Hast du Lust auf einen Spaziergang, Väterchen? Es ist so tolles Wetter.«
Romano ließ die Zeitung sinken. »Einen Spaziergang? Wie kommst du denn auf die Idee?« Normalerweise ging Elsa überhaupt nicht gern spazieren und hatte es immer abgelehnt,
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